54. Jahrestagung der DDG erstmals mit einem Schwerpunkt Gendermedizin:
„Diabetes-Tsunami“ stoppen!

Artikel
25.06.2019
Fast 6000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutierten in Berlin unter dem Motto „Diabetes – nicht nur eine Typ-Frage“ neuste Entwicklungen der Diabetesforschung und -behandlung. Insbesondere Frauen und jüngere Personen haben ein erhöhtes diabetesbezogenes Mortalitätsrisiko.

In mehr als 77 Symposien, 22 Workshops sowie Diskussionsrunden und wissenschaftlichen Kurzbeiträgen standen beim Diabetes Kongress Themen im Fokus wie die neue Diabetesklassifikation, Remission, Umweltfaktoren, psychosoziale Aspekte, die Lebensqualität von Menschen mit Diabetes mellitus und zum ersten Mal bekam auch die geschlechtersensible Forschung einen eigenen Schwerpunkt. Dr. Ute Seeland wurde von dem diesjährigen Kongresspräsidenten Prof. Dr. Michael Roden, Wissenschaftlicher Direktor und Vorstand des Deutschen Diabetes-Zentrums (DDZ) und Leiter der Klinik für Endokrinologie und Diabetologie am Universitätsklinikum Düsseldorf, in die Programmkommission gerufen, um den Themenschwerpunkt Gender zu vertreten.

Vielfältige Geschlechterunterschiede

„Es fühlt sich an, als ob es sich um einen Meilenstein für Deutschland handelt!“, sagte Ute Seeland nach dem Kongress. Die vier Symposien mit den Themen Migration und Diabetes, Pharmakotherapie fängt beim Geschlecht an, Risikofaktoren und Komplikationen geschlechtersensibel betrachtet und Geschlechterunterschiede beim Typ 1 Diabetes zeigten eindrücklich, wie vielfältig die Geschlechterunterschiede bei der Diabeteserkrankung und -therapie sind. Beispielhaft war die Darstellung der Unterschiede bei der zentralen Insulinwirkung im Gehirn bei Mäusen und die fehlende Beachtung dieser Kenntnis bei der Translation in die Humanmedizin. Eine mögliche Erklärung, warum nasal appliziertes Insulin bei Frauen bei weitem nicht die gleiche erwünschte Wirkung hat auf die Senkung des Blutzuckers wie bei Männern. Die humanen Studien wurden abgebrochen und als erfolglos bezeichnet. Auch die noch immer nicht erfolgreichen Präventionsstrategien zur Eindämmung der Adipositas könnten besser greifen, wenn die Geschlechterunterschiede bei der zentralen Feedbackregulation der Inkretine und Hormone GLP, GIP und Glukagon besser verstanden werden würden. Die Sexualhormonrezeptorverteilung in den einzelnen Gehirnarealen spielt hier eine wesentliche Rolle bei der Regulation. Die postmenopausale Gabe von Estradiol allein führt nicht zu der erwünschten Gewichtsreduktion. Daher werden polyagonistische Wirkstoffe dieser drei Hormone entwickelt, die zurzeit in Tierstudien eine fast vollständige Verhinderung der Leberverfettung bei weiblichen Mäusen mit Diabetes zeigen, nicht jedoch bei den männlichen Mäusen. Es bleibt abzuwarten, ob diese Medikamente die Marktreife erlangen. Dringend nötig wäre es, da Frauen im Durchschnitt häufiger zu Übergewicht und Fettleibigkeit neigen als Männer. Und obwohl Männer öfter eine bauchbetonte Fettverteilung aufweisen, ist ein hoher Bauchfettanteil für Frauen ein stärkerer Risikofaktor für die Entwicklung eines Diabetes mellitus Typ-2.

Datenlage immer noch unzureichend

Frauen mit Diabetes Typ 1 oder Typ 2 haben im Vergleich zu betroffenen Männern ein höheres Sterblichkeitsrisiko. In Deutschland ist es bei Männern mit Typ-2-Diabetes um das 2,8-fache und bei Frauen sogar um das 4,2-fache höher als bei stoffwechselgesunden Menschen beider Geschlechter. Dabei spielen biologische, soziale und soziopsychologische Faktoren eine Rolle. Der Unterschied ist in der Altersgruppe der 65- bis 69-Jährigen am größten. Zudem ist laut Untersuchungen die Übersterblichkeit von Frauen mit Diabetes in Deutschland trotz vergleichbarer Gesundheitsversorgung höher als in Schweden, Großbritannien oder Kanada.

Die Datenlage zur Wirksamkeit und Nebenwirkungsrate von pharmakologischen Therapien ist bislang unzureichend, bemängelt Dr. Ute Seeland. „Ein Grund dafür könnte sein, dass Frauen im gebärfähigen Alter aus klinischen Studien häufig ausgeschlossen werden – einerseits um zyklusabhängige Effekte zu vermeiden, andererseits, um das Risiko einer ungeplant eintretenden Schwangerschaft unter Studienmedikation zu umgehen.“

Endlich präventive Maßnahmen durchsetzen

Für wirksame Strategien zur Vorbeugung und Behandlung müssen geschlechterspezifische biologische und soziale Faktoren sowie Verhaltensmuster erforscht werden, sagt Ute Seeland. Hier helfen auch Kenntnisse aus der Migrationsforschung mit besonderer Betonung der Kommunikation und zu landeseigenen Verhaltensmustern. Trotz optimaler Behandlungsbedingungen erreichen viele Frauen die Zielwerte für die Glukoseeinstellung, die Blutdruck- und Blutfettwerte nicht. Soziopsychologische Faktoren wie die eigene Fürsorge bei der medizinischen Behandlung, der Einhaltung von Diäten oder sportlichen Aktivitäten sind weiterhin Ansatzpunkte, die es zu lösen gilt. Frauen haben hier häufiger Defizite als Männer.

Daher forderte die DDG anlässlich des Kongresses erneut die Politik auf, endlich präventive Maßnahmen umzusetzen. Darunter eine steuerliche Belastung adipogener und eine Entlastung nährwertgünstiger Lebensmittel, ein Verbot von an Kinder gerichteter Werbung und eine für Verbraucher verständliche Nährwertkennzeichnung auf der Vorderseite von Lebensmittelverpackungen.
Auch beim Diabetes Kongress 2020 wird es wieder einen Schwerpunkt „Gender“ geben.

Dr. Ute Seeland
Mehr zum Thema