Gendermedizin in die Versorgung –
der Förderung muss Institutionalisierung folgen!

Artikel
16.10.2019
Prof. Sabine Oertelt-Prigione
Im Interview:
Die Internistin Sabine Oertelt-Prigione ist Professorin für
geschlechtersensible Medizin an der Radboud Universität im
niederländischen Nijmegen – und wissenschaftliche Leiterin der
deutsch-österreichischen Expert/innen-Tagung am 25. Oktober in Berlin.

Gendermedizin ist seit fast 30 Jahren im Gespräch – ist sie wenigstens schon zum Teil in der Versorgungspraxis, bei Patientinnen und Patienten angekommen? 

Prof. Oertelt-Prigione: Es hat sich definitiv etwas weniger getan als möglich gewesen wäre. Was sich sicherlich langsam verändert, ist das Bild des „Patienten“. Das kommt zum Teil durch die Aufmerksamkeit für die personalisierte bzw. individualisierte Medizin und zum Teil tatsächlich durch mehr Aufmerksamkeit für Erkrankungen bei Frauen. So absurd das klingen mag, findet individualisierte Medizin noch oft ohne Berücksichtigung von Geschlecht statt, als ob das lediglich ein „Nachgedanke“ sei. Allerdings stellt sich dann mitunter heraus, dass die Personalisierung vielleicht doch nicht bei beiden Geschlechtern gleich gut funktioniert, wenn z.B. einige personalisierte Chemotherapeutika bei Männern und Frauen unterschiedlich gut funktionieren.
In der Kardiologie wissen wir vermutlich am meisten bezüglich Geschlechterunterschieden bei Diagnose und Therapie. Dies ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass die ersten „Gendermedizinerinnen“ vor allem Kardiologinnen in den USA waren, deren Erkenntnisse dann auch in Europa aufgegriffen und reproduziert wurden. Die Gendermedizin war tatsächlich lange Zeit fast ausschließlich geschlechtersensible Kardiologie. Die anderen Fachrichtungen kommen erst langsam nach. Trotz der Aufmerksamkeit für das Thema wird in der Praxis noch relativ wenig getan. Es gibt einige Spezialistinnen, wie zum Beispiel Frau Dr. Hess in Berlin oder Professorin Angela Maas hier in den Niederlanden, aber in der Ärzteschaft im Allgemeinen ist das Thema noch längst keine Selbstverständlichkeit. Angela Maas sagt mir allerdings, dass die Nachfrage von Seiten der Patient/innen bei ihr so groß ist, dass es sehr lange Wartezeiten gibt. Das Interesse ist also definitiv vorhanden.

Wo gibt es Fortschritte und wo ist noch viel zu tun? Welche Erfahrungen und Vorhaben gibt es z.B. in den Niederlanden oder auch anderswo?

Prof. Oertelt-Prigione: Ich denke, es ist prinzipiell ein guter Moment für die Gendermedizin. Die EU Kommission setzt aktuell auf das Thema, u.a. durch die Expert/innengruppe „Gendered Innovations 2“, die Methoden, Inhalte und vor allem Empfehlungen für die strukturelle Einbindung in „Horizon Europe“, das EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation, entwickelt, aber auch die Situation im EU Parlament gestaltet sich vorteilhafter als von vielen befürchtet. Auf WHO- und UN-Ebene ist das Thema Gender im weitesten Sinne ebenfalls inzwischen extrem präsent, z.B. durch Global Health 50I50. Auf nationaler Ebene gibt es immer mehr Förderinitiativen für geschlechtersensible Medizin, obwohl wir uns dann immer fragen müssen, ob dem tatsächlich eine Institutionalisierung folgen wird. Die DFG wird im November ihre neuen Richtlinien veröffentlichen. Große wissenschaftliche Zeitschriften verlangen immer häufiger die Berücksichtigung von Geschlecht, wenn über Studien und Forschungsergebnisse berichtet wird. Vorbildhaft ist hier The Lancet, aber auch Zeitschriften, die auf Grundlagenforschung fokussieren, wie z.B. die gesamte Cell Press-Familie, werden ihre Standards dazu zukünftig verschärfen. Das British Journal of Pharmacology, das mehr die Behandlungsseite im Visier hat, veröffentlichte vor Kurzem eine Sonderedition zum Thema Geschlechterunterschiede und hat im Zuge dessen auch seine Richtlinien für Manuskripte geändert.
International tut sich also sehr viel und die strukturellen Bedingungen verändern sich.

Was ich als Aufgabe für mich und die Weiterentwicklung der Disziplin sehe, ist die Institutionalisierung ihrer Inhalte in Deutschland und Europa. Im Unterschied zu den früheren Ansätzen würde ich hier sehr stark für Vernetzung plädieren. Die deutsche akademische Kultur ist leider sehr individuell und neigt zur Einzelprofilierung. Das ist zwar ganz hilfreich, wenn man ein besonderes Molekül für eine Therapie suchen möchte, aber definitiv wenig erfolgversprechend, wenn man ein ganzes System ändern und neue Paradigmen implementieren will. Das geht nicht ohne starke Allianzen und themenübergreifende Zusammenarbeit – und da geht noch viel mehr! Ich plädiere deshalb für eine breite Koalition von Akteur/innen, um das Thema auf allen Ebenen zu verankern. Das bedeutet, dass wir alle Expertisen bündeln müssen, wie das zum Beispiel die Kolleginnen in den Niederlanden, wo ich seit zwei Jahren tätig bin, mit ihrer Wissensagenda gemacht haben: Alle Expert/innen aus verschiedenen Disziplinen sind zusammengekommen, haben den Status Quo und die notwendigen nächsten Schritte definiert. Daraufhin hat es ein ministeriell gefördertes Programm zur Erforschung dieser Wissenslücken gegeben, was aktuell noch läuft. Wichtig waren dabei die Breite und potentielle Reichweite der Disziplin aufzuzeigen und alle an einen Tisch zu setzen.

Warum ist der akademische Betrieb so schwerfällig, was sich u.a. daran zeigt, dass es mit Blick auf die Gendermedizin keine – oder nur wenige – akzeptable Angebote im Medizinstudium in Deutschland gibt? Wo stehen wir diesbezüglich im internationalen Vergleich?

Prof. Oertelt-Prigione: Weil das Thema als persönliches Interesse und nicht als Strukturelement betrachtet wird - sowohl von den Institutionen als auch von den Beteiligten. Und es gibt zu wenig Druck von außen auf tendenziell schwerfällige Institutionen. Aus meiner Perspektive braucht es drei Elemente:
  • Expert/innen, die das Wissen haben und bereit sind, es zu teilen, 
  • Universitäten und ärztliche Selbstverwaltungsinstrumente, die sich dem Thema stellen, und 
  • Druck von Studierenden, Zivilgesellschaft und Patient/innen, um die gesellschaftliche Aktualität des Themas zu unterstützen. 
Erst wenn wir diese drei Dinge haben, kann es zu der strukturellen Implementierung kommen. Allerdings sind manche Punkte leichter umzusetzen als andere. Und es ist immer eine Frage der Anreize. Was funktioniert für wen? Es ist möglich, Universitäten und Ärztekammern zu überzeugen, aber man muss eine Interessensdeckung schaffen. Zwischen dem, was sie wollen, und dem, was ich erreichen möchte – und dann sehen, wie wir das zusammen bekommen ...

Wie kann die Gendermedizin stärker in die Leitlinien kommen, das wäre doch eine gute Voraussetzung, um die Versorgung diesbezüglich zielführender zu machen?

Prof. Oertelt-Prigione: Ich denke, man muss das Thema so präsentieren, dass es für die Fachgesellschaften relevant werden kann. Solange es als Nischenthema für ein paar Kolleginnen gesehen wird, ist es schwierig. Ich habe sehr gute Erfahrung mit der Assoziation „Geschlechtersensibilität“ – „Arzneimittelsicherheit“ gemacht. Die ESMO (Europäische Gesellschaft für medizinische Onkologie) hat jetzt z.B. auf Gesellschaftsebene eine Task Force für Gendermedizinische Aspekte in der Onkologie ins Leben gerufen. Wir werden definieren, wo die Wissenslücken sind, wie wir sie füllen können und wie das schnell in die Praxis umgesetzt werden kann. Der Task Force Gründung ist ein Workshop mit Fokus auf Geschlecht und u.a. Arzneimittelsicherheit in der Onkologie vorausgegangen, das hat selbst viele Hardliner überzeugt. Somit können wir die Kolleg/innen abholen, wo sie geradestehen. Natürlich ist so etwas keine Initiative einer einzelnen Person. Dem Workshop und der Task Force ist der unermüdliche Einsatz von Dr. Dorothea Wagner in Lausanne und u.a. ihren Kolleg/innen Prof. Paolo Dotto und Prof. Solange Peters vorausgegangen.

Obwohl inzwischen zunehmend viele Forschungsergebnisse bestehende oder eben nicht bestehende Unterschiede nachweisen, gibt es Bereiche, die ganz sicher diesbezüglich Nachholbedarf haben – zu nennen wäre z.B. Arzneimittelforschung und Biotech-Entwicklungen, auch die Herstellung und Anpassung medizinischer Geräte sowie die Telemedizin gehören dazu. Was ist zu tun, um diesen Prozess im Interesse von Patientinnen und Patienten zu beschleunigen?

Prof. Oertelt-Prigione:
Geschlecht muss bei der Entwicklung von Innovationen in Biotech, bei der Digitalisierung und bei medizinischen Geräten von Anfang an mitgedacht werden! Was ich bei meiner Arbeit mit Start Ups und Innovator/innen im Gesundheitswesen oft sehe, ist die gleiche Geschlechterblindheit, die uns in der Medizin viele Probleme beschert hat. Ich versuche dann zumindest für das Thema zu sensibilisieren und klar zu veranschaulichen, dass Nutzerzentrierung, User Experience, eben Geschlecht als Variable mit einzubeziehen sind – bei Inhalten und in Design. Es ist sozusagen eine doppelte Herausforderung. Ansonsten fehlt ihnen potenziell 50 Prozent oder mehr des Marktes …

Gesundheitspolitik wie auch Krankenkassen betonen immer wieder die Notwendigkeit einer geschlechtergerechten Gesundheitsversorgung. Praktisch ist davon wenig zu sehen. Was können wir tun?

Prof. Oertelt-Prigione: Krankenkassen sind extrem relevante Spieler im Gesundheitswesen. Die Betonung der Notwendigkeit kommt ja nicht von ungefähr, sondern durch die Forderung geschlechtergerechter Versorgung im Gesetz. Die Krankenkassen versuchen nur das umzusetzen, was wir eigentlich gesetzlich machen müssten. Ich denke, dass sie sich allerdings hierbei noch stärker machen könnten. Krankenkassen haben auch eine Lobbyrolle innerhalb des Systems, neben ihrer Rolle als Kostenträger. Dadurch sind sie in einer sehr starken Position und könnten, sollten, müssten solche Entwicklungen noch mehr unterstützen.

Die Forderung nach Geschlechtergerechtigkeit, -gleichstellung und -gleichheit sowie die Gendermedizin mit dem Fokus auf die biologischen und psychischen Unterschiede unter Einbeziehung des sozio-kulturellen Umfeldes: eine komplizierte Gemengelage, die, so hat man den Eindruck, im Moment gerade für Sprengstoff in der gesellschaftlichen Diskussion bietet. Wie damit umgehen?


Prof. Oertelt-Prigione:
Wir müssen bei unserer Arbeit darauf achten, wie wir Geschlechterunterschiede präsentieren. Auf der einen Seite haben wir es mit geschlechtsbedingten biologischen Unterschieden zu tun, auf der anderen stellen wir uns der Frage, wie gesellschaftliche Rollenbilder den Zugriff auf Gesundheitsversorgung beeinflussen. Es ist immer wieder relevant klar zu stellen, dass biologische Unterschiede nicht zu einem biologischen Determinismus führen. Die Tatsache, dass in meinem Körper mehr Östrogene schwimmen als bei ein Mann, macht mich nicht unfähig, eine Führungsposition einzunehmen. Besonders in der gegenwärtigen politischen Konstellation, in der manche Parteien glauben, biologische Geschlechterunterschiede rechtfertigten es zu fordern, dass Frauen an den Herd und Männer auf die Jagd in den Wald gehören, müssen wir auch im Auge behalten. Unsere Arbeit kann instrumentalisiert werden, wenn wir nicht aufpassen, und dessen müssen wir uns bewusst sein.

(Das Gespräch führte Annegret Hofmann.)
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