Genforschung unterwegs zu
geschlechtsabhängigen Krebstherapieoptionen

Interview
21.01.2021
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PD Dr. med. Andrea Kindler-Röhrborn leitet die Arbeitsgruppe Molekulargenetische Tumorpräventionsforschung am Institut für Pathologie des Universitätsklinikums Essen. Wir sprachen mit ihr über die Rolle der Gene bei der Entstehung von Krebs. Geschlechtsunterschiede spielten dabei lange eine wenig beachtete Rolle. Das ändert sich gerade.

Wir konnten in letzter Zeit berichten, dass Onkolog/innen das Thema Geschlechterunterschiede bei Krebserkrankungen stärker in den Blick nehmen. Gibt es dabei für Sie als Grundlagenforscherin spannende Ansätze?

PD Dr. Andrea Kindler-Röhrborn: Das ist ein sehr facettenreiches Thema. Zunächst ist es natürlich auffällig, dass von den meisten Tumorarten, an denen beide Geschlechter erkranken, weltweit mehr Männer als Frauen betroffen sind. Dieses Phänomen ist weitgehend unabhängig vom Alter, der geographischen Lokalisation und der Ethnie, so dass es naheliegt, dass neben geschlechtertypischen Lebensstilfaktoren Gene im Zusammenspiel mit Geschlechtshormonen eine Rolle spielen und Ansatzpunkte für medikamentöse Präventivmaßnahmen bieten können. Inzwischen findet man aber neben den rein zahlenmäßigen Unterschieden in vielen Fällen auch unterschiedliche Mutationsspektren in denselben Tumorarten, je nachdem ob sie in Frauen oder Männern entstanden sind. Dies trifft auch für die Menge bestimmter Genprodukte zu. Da die Präzisionsonkologie z.B. bestimmte durch Genmutationen „entfesselte“ tumorfördernde Signalwege unterbindet, um das Tumorwachstum zu bremsen, werden sich daraus sicher geschlechtsabhängige Therapieoptionen ableiten. Von der klinischen Seite her ist auch bekannt, dass verschiedene Therapieschemata bei Frauen und Männern unterschiedlich effizient sind, womit sich der Kreis schließt.

Gibt es aus solchen Weiterentwicklungen und vielleicht auch gemeinsamen Forschungsansätzen schon erste Konsequenzen für die Prävention, also etwas, was direkt in der Gesundheitsversorgung und für die Patient/innen wirksam wird oder es werden könnte?

PD Dr. Andrea Kindler-Röhrborn: Nein, leider nicht. Bisher sind die meisten medikamentösen Präventionskonzepte für Risikopatient/innen noch rein experimentell. Real durchführbare Tumorpräventionsstrategien beziehen sich im Wesentlichen auf Verhaltensänderungen - und sollten auf Frauen und Männer jeweils in spezifischer Weise zugeschnitten sein.

Vor ein paar Jahren schrieben Sie, dass die biomedizinische Forschung auf beiden Augen geschlechterblind sei. Wie schätzen Sie den Stand heute ein, hat sich etwas getan? Wie bewegen sich diesbezüglich die Universitäten?

PD Dr. Andrea Kindler-Röhrborn: Ich denke, dass speziell 2020 ein ganz wichtiger Meilenstein für die Implementierung von Geschlechteraspekten in der biomedizinischen Forschung war: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat im Mai verfügt, dass die Reflexion von Geschlecht und Vielfältigkeit Bestandteil der Vorbereitung eines jeden Forschungsprojekts sein muss. Anhand einer Checkliste können die Antragsteller/innen überprüfen, ob die Geschlechter- bzw. Vielfältigkeitsdimension für ihre Projekte relevant sind. Das gilt sowohl für Einzelforschungsprojekte als auch für Forschungsverbünde. Diese Maßnahme hat auch in unserer Medizinischen Fakultät in Essen das Interesse an der Geschlechterforschung gesteigert. Es gibt seit kurzem eine wesentlich intensivere Zusammenarbeit mit dem Essener Kolleg für Geschlechterforschung, nicht zuletzt auch, um die jetzt von Seiten der DFG vorgesehenen Sensibilisierungs- und Vertiefungsworkshops durchzuführen.

Wird es, durch die Pandemie und eine forcierte Impfstoffentwicklung usw. ausgelöst, neue Anstöße für eine geschlechtersensible Medizin geben oder, im Gegenteil, einen Stillstand, eine Fokussierung auf andere Themen, was meinen Sie?

PD Dr. Andrea Kindler-Röhrborn: Einen Stillstand? Das glaube ich sicher nicht, zumal nach einer COVID-19 Infektion die Männer weltweit wesentlich schwere Verläufe als die Frauen haben und eine wesentlich höhere Mortalität. Damit bietet die COVID-Infektion das klassische Bild einer sexuell dimorphen Erkrankung. Da sich zum jetzigen Zeitpunkt sozusagen jedermann für COVID interessiert, wird sich dieses Konzept bei medizinischen Fachpersonen und auch Laien wirkungsvoll einprägen und damit auch die biomedizinische und klinische Geschlechterforschung befeuern.

Das Interview führte Annegret Hofmann
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