"Gerade in der Zahnmedizin spielt der Genderaspekt eine wichtige Rolle"

Druckansicht

Wir sprachen mit Priv.-Doz. Dr. Dr. Christiane Gleissner. Die engagierte Zahnärztin aus Friedberg ist wissenschaftliche Leiterin der erst kürzlich gegründeten Deutschen Gesellschaft für geschlechterspezifische Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde - und Diskussionsteilnehmerin beim ersten Workshop Gendermedizin & Öffentlichkeit.

Der Zahnärztinnen-Verband hat sich bei seinem jüngsten Hirschfeld-Tiburtius-Symposium ganz vehement Genderaspekten angenommen. Was macht dieses Thema für die Zahnmedizin so aktuell?

Dr. Dr. Gleissner: Bisher wurde diesem Thema im deutschsprachigen Raum - anders als in anderen Ländern - nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Während in der Medizin die Geschlechterforschung längst Eingang in wissenschaftliche Projekte und die Lehre gefunden hat, rückt die geschlechterspezifische Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde nur langsam in das Bewusstsein der forschenden und der praktizierenden Kolleginnen und Kollegen. Spannend und aktuell ist dieses Thema deshalb, weil gerade in der Zahnmedizin neben den biologischen Unterschieden der Genderaspekt eine wichtige Rolle spielt. Erkrankungen der Zahnhartsubstanz (z.B. Karies) und des Zahnbettes (z.B. Parodontitis) sind multifaktorielle Erkrankungen, an deren Entstehung das psychosoziale Umfeld in großem Maße beteiligt ist. Die unterschiedliche Morbidität oraler Erkrankungen, z.B. bei entzündlichen Parodontalerkrankungen, Zahnverlust, Kiefergelenk- und Mundschleimhaut-erkrankungen, ist aus nationalen epidemiologischen Erhebungen mit Daten belegt, aber die Ursachen dafür sind nahezu unbekannt. Sie werden in geschlechterspezifischen biologischen (orale Anatomie und Physiologie) und psychosozialen Unterschieden (z.B. Mundhygienegewohnheiten, Zahnarztbesuche) vermutet; hier besteht noch viel Forschungsbedarf. Das Ergebnis wird eine differenzierte Diagnostik, Therapie und Prävention sein, von der sowohl Frauen als auch Männer profitieren werden.

Ein solcher Ansatz gewinnt in der Zahnmedizin auch deshalb an Bedeutung, weil immer deutlicher wird, dass eine Vielzahl von Allgemeinerkrankungen mit oralen Erkrankungen verknüpft sind oder orale Begleiterscheinungen aufweisen. Speichelparameter, die bildgebende Darstellung des Kieferknochens und die Inspektion der Mundschleimhaut und der Zähne stellen wenig invasive Biomarker dar für die frühe Erkennung von Volkskrankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen, Leukämie, rheumatoide Arthritis und Eßstörungen, die auch geschlechterspezifische Unterschiede aufweisen. Hier können Zahnärzte, die neben den Hausärzten die Arztgruppe mit den meisten Patientenkontakten sind, eine wichtige Rolle in der Prävention weit verbreiteter Krankheiten übernehmen.

Den Gendergesichtspunkt in zukünftigen epidemiologischen Erhebungen auch in Bezug auf die Zahnmedizin zu berücksichtigen, wurde u. a. gefordert, welche Ergebnisse sind möglicherweise zu erwarten (hypothetisch)?

Dr. Dr. Gleissner: Aktuelle, nationale epidemiologische Studien wie SHIP (Study of Health in Pomerania) in Mecklenburg-Vorpommern haben die eben angesprochenen Zusammenhänge mit Daten belegt und zeigen, welche Bedeutung die Mundgesundheit für die Allgemeingesundheit hat. Ausreichend große Fallzahlen ermöglichten hier die Stratifizierung von Einflussfaktoren, zu denen auch das Geschlecht gezählt werden muss. Die Auswertung der Daten ergab nicht nur für Zahnärzte überraschende Befunde. So zeigte sich beispielsweise ein Zusammenhang zwischen Zahnzahl und Blutdruckwerten, und zwar war der Blutdruck umso höher, je weniger Zähne der Patient im Mund hatte. Dieser Zusammenhang blieb auch dann bestehen, wenn Risikofaktoren wie Rauchen, Ernährungsgewohnheiten, Blutfettwerte u.a. bei der Datenanalyse berücksichtigt wurden. Interessanterweise fand man dies nur bei Männern, nicht bei Frauen. Ich erhoffe mir von zukünftigen Studien noch viele weitere solche Hinweise, welche die interdisziplinäre Zusammenarbeit und den Erfahrungsaustausch von Zahnärzten und Ärzten aller Fachrichtungen stärken, im Interesse unserer Patienten.

Zu den bereits vorliegenden Erkenntnissen zählt, dass Frauen trotz besserer Zahnhygiene und prophylaktischer Maßnahmen stärker kariesgefährdet bzw. von Karies betroffen sind. Was ist heute zu den Ursachen zu sagen?

Dr. Dr. Gleissner: Die Ursachen für die geschlechterspezifischen Unterschiede sind nicht abschließend geklärt. Hormonelle Einflüsse könnten eine Rolle spielen. Als Grund wird auch angeführt, dass der Zahnwechsel von den Milchzähnen zu den bleibenden Zähnen und der Durchbruch der Zuwachszähne bei Mädchen früher erfolgt als bei Jungen, die Zähne also früher einem möglicherweise kariesverursachenden Mundmilieu ausgesetzt sind. Außerdem ist bekannt, dass Frauen in jedem Lebensalter weniger Speichel als Männer bilden. Eine Vielzahl von Medikamenten, darunter z.B. Antidepressiva (die häufig[er] Frauen verordnet werden) bewirkt eine Verminderung des Speichelflusses, und auch bei Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises, von denen Frauen deutlich häufiger als Männer betroffen sind, ist die Speichelproduktion vermindert. Der Speichel ist aber als Remineralisationsmedium ein wichtiger Schutzfaktor vor Karies; sein Mangel erhöht das Risiko, an Karies zu erkranken. Auch alimentäre Faktoren (die Frau als Köchin) werden zu möglichen Ursachen gezählt.

Heißt modifizierte zahnmedizinische Versorgung auch, Aspekte der Gesundheit und Krankheit ganzheitlich zu sehen - anders gesagt: Gibt es Ansätze einer fachübergreifenden Zusammenarbeit zu anderen medizinischen Fächern, z. B. in der Schmerztherapie, bei psychosomatischen Krankheitsbildern und anderem mehr?

Dr. Dr. Gleissner: In der Zahnmedizin hat in den letzten Jahren ein Paradigmenwechsel stattgefunden weg von einer Reparaturzahnmedizin, die vor allem Defekte füllt und verlorene Zähne ersetzt, hin zu einer präventiv-orientierten, ganzheitlichen Betrachtung, die Zahnheilkunde in den Fächerkanon der Medizin einordnet und den Zahnarzt als Spezialisten für Mundkrankheiten sieht. Dies ist für mich eine der wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Zahlreiche Initiativen, vor allem von zahnärztlicher Seite, unterstreichen das Bemühen um eine fachübergreifende Zusammenarbeit. Ich wünsche mir für die Zukunft, dass auch bei den ärztlichen Kolleginnen und Kollegen ein Umdenken einsetzt und Zahnärzte weniger als Techniker und mehr als ärztliche Spezialisten wahrgenommen werden.

Und eine letzte Frage: Was machen Zahnärztinnen anders als Zahnärzte...?

Dr. Dr. Gleissner: Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, wenn man geschlechterstereotypische Rollenzuschreibungen und unzulässige Verallgemeinerungen vermeiden will. Systematische Untersuchungen aus Deutschland zu diesem Thema gibt es nicht, ich kann daher nur aus persönlicher Erfahrung berichten. Fachlich existieren m. E. keine Unterschiede, Frauen und Männer setzen aber andere Behandlungsschwerpunkte. Dies wird bereits bei den Spezialisierungen deutlich: Frauen wählen häufiger Kinderzahnheilkunde und Kieferorthopädie, Männer zahnärztliche Chirurgie und Prothetik. Bei Zahnarztehepaaren, die eine gemeinsame Praxis betreiben, kann man sehr häufig eine entsprechende Aufteilung der Aufgabenfelder beobachten. Aus eigenen Beobachtungen von Studierenden und Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen habe ich den Eindruck gewonnen, dass Zahnärztinnen zurückhaltender sind bei Prognosen und nichtinvasive Therapien bevorzugen, aus Untersuchungen bei Medizinerinnen wissen wir, dass diese beispielsweise Leitlinien konsequenter befolgen.

Besonders erwähnenswert finde ich, dass die deutsche Zahnärztinnen mit ihrer beruflichen Lage im Durchschnitt zufriedener sind als ihre männlichen Kollegen und ihre fachlichen Interessen stärker in der Behandlung berücksichtigt sehen. Inwieweit sich dies langfristig auf das Behandlungsergebnis auswirkt, ist nicht bekannt. Unklar ist auch, ob solche Ergebnisse möglicherweise auf die Perpetuation bereits bestehender Stereotypien (z.B. Kinderzahnheilkunde als „weibliches Gebiet“) sowohl auf Seite der Zahnärztinnen und Zahnärzte als auch auf Seite der Patientinnen und Patienten zurückzuführen sind.
Mehr zum Thema