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Gender und Diabetes
Ein Themenschwerpunkt beim Diabetes Kongress 2019

Artikel
05.04.2019
Am 29. Mai eröffnet der Diabetes Kongress in Berlinseine Pforten. Einer der Themenschwerpunkte ist„Gender und Diabetes“. Gendermedizinerin Dr. Ute Seeland und Tagungssekretär Prof. Dr. Christian Herder geben einen Überblick.

Die Gendermedizin beschäftigt sich mit der Erforschung der Geschlechterunterschiede auf genetischer, epigenetischer, diagnostischer und therapeutischer Ebene unter Berücksichtigung der sozio-kulturellen Einflüsse und des Alters. Am Institut für Geschlechterforschung in der Medizin (GIM) an der Charité – Universitätsmedizin Berlin (Direktorin: Prof. Dr. Dr. h.c. V. Regitz-Zagrosek) untersuchen Gendermedizinerinnen und Gendermediziner, wie sich nicht nur das biologische Geschlecht („sex“), sondern auch soziale, kulturelle und gesellschaftliche Aspekte von Geschlecht („gender“) auf Gesundheit und Krankheit auswirken.
Dieser Ansatz ist ein wesentlicher Bestandteil einer individuelleren Medizin in Richtung Präzisionsmedizin – flexibel genug, um auch die unterschiedlichen Interessen und das Verhalten in Abhängigkeit vom aktuellen Lebensabschnitt einer Person zu berücksichtigen. Gerade bei chronischen Erkrankungen wie Diabetes ist die Betrachtung der Lebenssituation besonders wichtig, um die therapeutischen Maßnahmen individuell zu optimieren.

Blick auf geschlechtersensible Aspekte stärken

Im Jahr 2018 gab es 1375 Publikationen mit gendermedizinischen Inhalten, die im Zusammenhang mit dem Thema Diabetes veröffentlicht wurden. Es handelt sich um Publikationen, die sich im Ergebnis auf „Geschlecht“ beziehen. Studien, die das dichotome Geschlecht weiblich/männlich untersuchen, werden seltener publiziert als diejenigen, die nur ein Geschlecht untersuchen. Ansätze zu genetisch bedingtem Dimorphismus oder auch autosomalen Polymorphismen und dem Einfluss auf das Risiko der Entwicklung einer diabetischen Stoffwechsellage konnten an Versuchstieren nachgewiesen werden. Die Translation auf die humane Ebene ist oft erschwert durch das Fehlen von ausreichend großen Datensätzen, wie diese für genom-weite Assoziationsstudien erforderlich sind.
Schwerpunkte der Publikationen liegen auf der Regulation der Sexualhormone bei prä- oder postmenopausalen Frauen bzw. bei Männern mit Diabetes, mit gestörtem Glukosestoffwechsel oder ohne Diabetes. Aber auch der Fett- und Knochenstoffwechsel sowie die Effektstärke von Risikofaktoren, psychosozialem Stress, Depressionen und Gestationsdiabetes wurden untersucht. Die Prävalenz des Typ-2-Diabetes steigt bei Frauen und Männern weiter an, obwohl die Risikofaktoren für Diabetes und die mikro- bzw. makrovaskulären Folgeerkrankungen seit Jahren gut erforscht sind.
Die Daten von Tönnies et al. aus dem Deutschen Diabetes Zentrum zeigen zudem, dass das Sterblichkeitsrisiko von Menschen mit Diabetes im Vergleich zu gesunden Personen in allen Altersgruppen bei den Frauen höher ist als bei den Männern. Der Unterschied ist in der jüngsten Altersgruppe (65–69 Jahre) am größten zuungunsten der Frauen mit Diabetes. Das Sterblichkeitsrisiko beim Typ-2-Diabetes lag bei den Männern um das 2,8-fache und bei den Frauen sogar um das 4,2-fache höher als bei der Kontrollgruppe ohne Diabetes. Im Vergleich zu Schweden oder Kanada lag die Übersterblichkeit in Deutschland höher, insbesondere bezogen auf Frauen. Diese Daten allein sind ein guter Grund, die bisherigen Handlungs- und Versorgungsstrategien in Deutschland zu überdenken und den Blick verstärkt auf die geschlechtersensible Diagnostik und Behandlung zu richten.

Raum für Diskussionen auf dem Diabetes Kongress 2019

Wie groß die Unterschiede sind und welche Handlungsstrategien daraus abgeleitet werden können, möchten wir mit Ihnen auf dem Diabetes Kongress in Berlin diskutieren. Vier Veranstaltungen zum Thema Gender und Diabetes geben Ihnen die Möglichkeit, sich über die neuesten Kenntnisse zu informieren und mit Expertinnen und Experten zu diskutieren. Wir haben darauf geachtet, dass die mögliche Anwendbarkeit in der Praxis als Take-Home-Message am Ende jeder Veranstaltung steht. Die Schwerpunkte liegen auf den geschlechtersensiblen Fakten zu den Risikofaktoren, Komplikationen und der stratifizierten Pharmakotherapie mit den Hürden und Chancen. Die Diskussion über neue Versorgungskonzepte wird in besonderer Weise bereichert durch ein eigenes Symposium zu Menschen mit Migrationshintergrund und Diabetes. Gerade der Blick auf den Umgang mit anderen Kulturen ist sehr gut geeignet, der Diversität einer multikulturellen Gesellschaft gerecht zu werden, um die Versorgung aller in Deutschland zu verbessern. Die Darstellung der geschlechtersensiblen Fakten soll nicht nur auf die vier Symposien beschränkt bleiben, sondern ubiquitärer Bestandteil des Kongresses sein.

Wie unterscheidet sich Diabetes zwischen Mann und Frau?

Es gibt eine nicht zu unterschätzende Anzahl von Personen mit Prädiabetes, die bisher nicht diagnostiziert wurden. Hier kommt dem Wissen um Geschlechterunterschiede eine besondere Bedeutung zu. Es finden sich Hinweise, dass Männer mit Prädiabetes eher durch einen ab- normen Nüchternblutglukosewert, Frauen hingegen eher durch eine gestörte Glukosetoleranz auffallen. Die Assoziation zwischen Zunahme des Körpergewichts und steigendem Risiko, einen Typ-2-Diabetes zu entwickeln, ist bekannt und gilt für bei- de Geschlechter. Die Fettverteilung ist zusätzlich zu beachten, wenn präventive Maßnahmen Wirkung zeigen sollen. Obwohl Männer häufiger eine Fettverteilung mit Betonung des viszeralen Fettanteils aufweisen, ist der Nachweis und die progrediente Ansammlung von viszeralem Fett ein stärkerer Risikofaktor für Frauen, einen Diabetes zu entwickeln, als für Männer. In der Praxis bietet sich die Messung des Taillenumfangs an, um eine Zu- oder Abnahme des viszeralen Fettanteils abschätzen zu können. Zur genauen Bestimmung kann eine Quantifizierung mit einer MRT-Untersuchung durchgeführt werden.

Ein weiterer Prädiktor für einen Typ-2-Diabetes bei Frauen sind hohe Harnsäurespiegel. Bei Männern dagegen begünstigen eine systolische Hypertonie, das Rauchen und ein verstärkter Alkoholkonsum die Entwicklung des Diabetes.

Die Versorgung für alle Patientengruppen optimieren

Die Übersterblichkeit von Frauen mit Diabetes ist u. a. bedingt durch ein höheres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Vergleich zu Männern. Frauen haben ein 27 % höheres relatives Risiko für einen Schlaganfall und ein 44 % höheres relatives Risiko für eine KHK im Vergleich zu Männern. Dazu beitragen könnte ein stärker gestörter Fettstoffwechsel bei Frauen mit Diabetes, insbesondere ab der Perimenopause. Prämenopausal wirkt Östrogen über ER-? auf die Betazellen des Pankreas und übt somit einen positiven Einfluss auf die Insulinsekretion aus.
Zusätzlich zu den biologischen Unterschieden weisen Studien auf eine schlechtere Versorgungsqualität für Frauen mit Typ-2-Diabetes hin. Sie sind im Vergleich zu männlichen Pa- tienten oft älter, verfügen über ein geringeres Einkommen, eine geringere Bildung, mehr Komorbiditäten und häufig über eine größere Einschränkung ihrer körperlichen und kognitiven Fähigkeiten. Hier zeigt sich ein weiterer Ansatzpunkt, um die Versorgung von Frauen mit Diabetes zu verbessern.

Dr. Ute Seeland und
Prof. Dr. Christian Herder


Dieser Beitrag erschien in der diabeteszeitung · 4. Jahrgang · Nr. 1/2 · 20. Februar 2019
Wir danken für die Nachdruckgenehmigung



Programm des
Diabetes-Kongresses:
https://diabeteskongress.de
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