Intensivmedizinische Kennzahlen geschlechtsspezifisch betrachten

„Sepsis und Gendermedizin“. Mit diesem Aspekt beschäftigte sich eine kürzlich fertiggestellte Studie unter der Leitung von Dr.med. Irit Nachtigall. Sie ist Oberärztin der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin in der Charité Berlin.

Was genau haben Sie erforscht?
Dr. Nachtigall: Wir haben in einem Patientenkollektiv auf der Intensivstation untersucht, ob Männer und Frauen in Bezug auf Antibiotika gleich behandelt werden und wie der Behandlungserfolg ist. Hintergrund dafür ist, dass beispielsweise Herzerkrankungen von Frauen anders behandelt werden sollten als die von Männern. Wir wollten überprüfen, ob sich beispielsweise die Sterberate unterscheidet, wenn beide Geschlechter gleich behandelt werden. Eine weitere Frage war, ob Infektionen bei Frauen vielleicht auch anders behandelt werden müssten.

Was hat sich dabei ergeben?
Dr. Nachtigall: Am Ende hat sich herausgestellt, dass Frauen vermutlich eher an Infektionen sterben als Männer, obwohl sie gesünder wirken. Das heißt, dass die Scores, die intensivmedizinischen Kennzahlen offensichtlich für Frauen und Männer getrennt betrachtet werden müssten, um das Sterberisiko exakter bestimmen zu können.

Wie sah das Studiendesign aus?
Dr. Nachtigall: Insgesamt waren es 709 Patienten, 309 Frauen und 400 Männer, die beispielsweise an schweren intensivmedizin-pflichtigen Infektionen wie Lungeninfektionen oder Infektionen des Bauchraumes (abdominelle Infektionen) litten. Für zweimal drei Monate haben wir Patientenverläufe untersucht. Dabei wurden entsprechende klinische Daten von jedem Tag ausgewertet und in der Gesamtschau überprüft, wie es Männern und Frauen erging.

Wurde das zuvor nie nachgefragt?
Dr. Nachtigall: Andere Studien haben gezeigt, dass Männer oft anders behandelt werden als Frauen. Beispielsweise bekamen sie in einer Studie mehr invasive Untersuchungen und mehr zentrale Venenkatheter. Wir können dagegen sagen: Das Einzige, was Frauen bei uns weniger bekommen, sind Röntgenstrahlen. Vermutlich weil Frauen im gebärfähigen Alter weniger geröntgt werden. Wir haben in unserer Klinik klare festgelegte Standards für Antibiotikatherapien, die für beiderlei Geschlecht qualitativ gleich sind. Das gilt nicht nur für die Therapie, sondern auch für die Diagnostik. Deswegen ist unsere Vermutung, dass Frauen eher an den schweren Infektionen versterben, auch ein bisschen gewisser.

Wie erklären Sie sich das?
Dr. Nachtigall: Wir vermuten, dass die Anzeichen für eine Komplikation bei Frauen undeutlicher sind. Sie wirken länger gesund, erkranken dafür aber schneller und dan auch schwerer. Eine Art Durchhaltemechanismus könnte dahinterstecken, der in Notzeiten Sinn macht. Von Natur aus scheinen Frauen anders bei Infektionen zu reagieren – wenn sie dann aber krank werden, geht es relativ schnell, weil weniger Reserven vorhanden sind. Andere Forschergruppen hatten Hormonwirkungen als mögliche Ursache für geschlechtsspezifische Krankheitsverläufe benannt. Aber das ist noch recht spekulativ.

Was sagen Ihre Zahlen aus?

Dr. Nachtigall: Nimmt man alle Intensivpatienten zusammen, sterben Frauen nicht häufiger. Anders allerdings bei schwereren Infektionen, eben jenen Sepsis-Patient/innen, die wir untersucht haben. Hier sind es 23,1 Prozent Frauen und nur 13,7 Prozent Männer, die verstorben sind.

Was könnte diese Erkenntnis für Diagnostik und Therapie bedeuten? Dr. Nachtigall: Man müsste vor allem unterschiedliche Kennzahlen etwa zur Krankheitsschwere für Frauen entwickeln. Wenn die Patienten jetzt zu uns kommen, sind diese gleich für Männer und Frauen. Wie sich zeigt, versterben die Frauen aber häufiger. Das könnte bedeuten, das Scores, die das ausdrücken, nicht ausreichend sind um für beide Geschlechter die Krankheitsschwere abzubilden, und man bei Frauen wahrscheinlich schon früher anfangen müsste zu therapieren. In vorhandene Scores müsste dann das Geschlecht einfließen, damit würden komplizierte Verläufe bei Patientinnen frühzeitiger erkannt.