Prof. Dr. Andrea Meurer:
Was ist für wen hilfreich? Die Orthopädie sucht Antworten

Univ.-Prof. Dr. Andrea Meurer ist Ärztliche Direktorin und Geschäftsführerin der Orthopädischen Universitätsklinik Friedrichsheim in Frankfurt am Main und seit 2017 Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC). Wir sprachen mit ihr im Vorfeld des Deutschen Kongresses für Orthopädie und Unfallchirurgie, der vom 24. bis 27. Oktober in Berlin stattfindet.

Das Motto des diesjährigen Kongresses ist „Bewegung ist Leben“ – und Sie ermuntern in Ihrem Kongress-Grußwort auch zu weiterer Bewegung in Ihrem Fach. Nun wurde in den letzten Jahren verstärkt darüber diskutiert, auch für die Orthopädie neue Erkenntnisse bezüglich einer geschlechterorientierten Betrachtungsweise in Diagnostik und Therapie bereitzustellen und zu implementieren, wie dies in einigen anderen medizinischen Fächern bereits der Fall ist. Um im Bild zu bleiben: Bewegt sich was?

Prof. Meurer: Es gibt verschiedene Forschungsansätze und immer neue Erkenntnisse. Gleich zu letzteren: Viel wurde schon über das „Genderknie“ geschrieben und gesprochen. Lange wurde diskutiert, ob eine spezielle Knieprothese für Frauen notwendig ist. Inzwischen gibt es eigentlich Konsens, dass es vor allem Größe, Gewicht und individuelle Anatomie der Patienten, ob Mann oder Frau, sind, die die Beschaffenheit dieses künstlichen Gelenks bestimmen. Das schließt nicht aus, dass weitere Erkenntnisse neue Entwicklungen anstoßen.

Beim Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU) 2016 wurde, mit Blick z. B. auf Knie- und Unterschenkelverletzungen, auf die Notwendigkeit geschlechtsspezifischer Präventions-, Behandlungs- und Rehabilitationskonzepte hingewiesen ...

Prof. Meurer: Unbestritten ist, dass sich Frauen und Männer natürlich auch in Bezug auf das Knie unterscheiden – z. B. bei Verschleiß und Belastbarkeit. Ein Beispiel: Mädchen verletzen sich bei Ballsportarten das vordere Kreuzband zwei- bis dreimal häufiger als Jungen. Der Grund dafür ist die schmalere „Notch“, die Grube zwischen den beiden Oberschenkelkondylen, in der sich die beiden Kreuzbänder befinden. Das vordere Kreuzband kommt daher eher mit den Knochen in Kontakt und kann schneller reißen. Sportarten wie Fuß- oder Handball und Skifahren erfordern schnelles Anlaufen, abruptes Stoppen und stellen damit sicher ein zu beachtendes Risiko dar.

Im Mittelpunkt Ihrer Forschungsarbeit stehen u. a. Sturzpräventionsprogramme für Frauen mit Osteoporose. Aber werden solche Programme nicht schon z. B. bei Krankenkassen, in Fitnessstudios und beim Physiotherapeuten angeboten?

Prof. Meurer: Das schon, aber dennoch hat sich an der Häufigkeit von – oft sehr folgenschweren – Stürzen im höheren Lebensalter bis jetzt kaum etwas geändert. Zwischen dem 50. und 90. Lebensjahr steigt die Häufigkeit zum Beispiel von Hüftbrüchen pro Jahrzehnt bei Frauen und Männern um das Zwei- bis Vierfache. Frauen haben bei vergleichbarer Knochendichte und im selben Alter wie Männer ein etwa doppelt so hohes Risiko für osteoporotische Knochenbrüche. Das sind nicht nur für die Betroffenen schwere Einschnitte in die Lebensqualität, sondern belasten auch unser Gesundheitssystem enorm. Hier besteht also aus vielerlei Gründen ein hoher Forschungs- und Handlungsbedarf, was Diagnostik und Therapien betrifft. Im Moment werten wir die Ergebnisse unserer Forschungsgruppe aus und hoffen, mit den Ergebnissen bald öffentlich werden zu können.

Sie fokussieren speziell auf die zahlenmäßig häufiger von Osteoporose betroffenen Frauen. Wurden Männer bislang nicht unzureichend berücksichtigt?

Prof. Meurer: Das hat sich, zumindest vom wissenschaftlichen Standpunkt aus, gewandelt. Die entsprechende Leitlinie liegt seit einiger Zeit vor, es wurde viel dazu publiziert, auch die Leitlinien-Kitteltaschenausgabe ist da umfassend aussagefähig. Aber wir wissen ja, dass manche Erkenntnis in der Praxis nur langsam Fuß fasst – und dass Osteoporose eine „Frauensache“ sei, hält sich halt auch bei manchen Ärzt/innen hartnäckig ...

Noch mal auf unseren Ausgangspunkt geschaut: Bewegung in der Orthopädie – was bewegt sich in die Zukunft hinein?

Prof. Meurer: Wenn man unsere wissenschaftlichen Bedarfe nimmt, so ist es vor allem die Suche nach den Ursachen verschiedener Erkrankungen. Spannend ist es ja überhaupt zu erfahren – wen betrifft Osteoporose und wen nicht – und wenn nicht, warum? Wie entstehen Arthrosen – bei bestimmten Gelenken sind es wieder die Frauen, die stärker betroffen sind, aber weshalb? Welche unterschiedlichen Faktoren, häufig eben auch das Geschlecht, kommen ins Spiel, was machen die Hormone dabei? Welche Therapien sind für wen hilfreich und welche nicht? Und weiter: Welche Kollegen und Fachleute aus welchen Bereichen müssen wir ins Boot holen, was können Biomaterialien und Biomedizin leisten, was bringen genetische Ansätze? Wo kann uns die Versorgungsforschung Bedarf aufzeigen und wie kann man dem entsprechen? Ich denke, es wird neue Formen der Kooperation geben – und jeder Kongress bringt dazu neue Anstöße.

Sie haben vor fast einem Jahr eine Zukunftswerkstatt mitgestaltet, die öffentlichkeitswirksam den Begriff „Feminisierung der Medizin“ ersetzt hat durch den der „Familisierung“. Auch eine Bewegung in die Zukunft hinein?

Prof. Meurer: Das ist eine Sache, die mir sehr am Herzen liegt: Wir wissen alle, dass mehr und mehr Ärztinnen in der medizinischen Versorgung und in den Instituten tätig sind. Deren Bedürfnis, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, ist eine große Chance – denn auch unsere männlichen Kollegen wünschen sich das zunehmend. Gerade in der Chirurgie und der Unfallchirurgie stellen uns die bisherigen Strukturen und Arbeitszeitmodelle vor Probleme. Schwangerschaften, Elternzeiten, Zeit für Weiterbildung, strukturierte Tagesabläufe – und der OP muss jederzeit optimal arbeitsbereit sein, keine Frage. Ich habe das Problem in unserer Klinik natürlich auch, manchmal müssen die Teams bis an den Rand der Erschöpfung arbeiten. Auch hier brauchen wir den Blick über den Tellerrand, den Erfahrungsaustausch – und nicht zuletzt politische Lösungen. Das Thema wird uns ganz sicher noch eine Weile begleiten.

Das Interview führte Annegret Hofmann