Prof. Elke Kalbe:
Das Geschlecht – eine relevante
Determinante in der Gehirnforschung

Interview
05.04.2019
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Prof. Dr. rer. nat. Elke Kalbe ist Leiterin der Abteilung für Medizinische Psychologie | Neuropsychologie & Gender Studies der Uniklinik Köln. Sie ist zudem Sprecherin der Arbeitsgruppe Neuropsychologie bei Parkinson der Deutschen Gesellschaft für Parkinson und Bewegungsstörungen. Wir sprachen mit ihr.

Dass Frauenherzen „anders“ schlagen, ist schon zu einer hinlänglich bekannten Schlagzeile in den Medien geworden, kaum jemand zweifelt noch an der Richtigkeit dieser Aussage. Anders beim Gehirn. Hier stehen sich die Kontrahenten fast unversöhnlich gegenüber. Kann es sein oder darf es nicht sein, dass sich die Geschlechter mit Blick auf das Gehirn unterscheiden? Was sind Ihre Erfahrungen als Neuropsychologin?

Prof. Kalbe: Tatsächlich lassen sich die Ursprünge der „Gendermedizin“ im Bereich der Herzerkrankungen finden, heute ist das Thema einer geschlechtssensiblen, personalisierten Medizin viel breiter vertreten – auch im Bereich der Gehirnforschung und Neuropsychologie. Als Wissenschaftlerin halte ich mich natürlich und vor allem an das, was unsere und andere Studien evidenzbasiert und überprüfbar zeigen. So gilt es als erwiesen, dass Männer stärkere funktionale Asymmetrien im Gehirn aufweisen als Frauen und demnach auch bestimmte kognitive Funktionen im männlichen Gehirn stärker lateralisiert sind. Außerdem geht man davon aus, dass die Verbindungen zwischen den Gehirnhälften bei Frauen ausgeprägter sind, während bei Männern die Verbindungen innerhalb einer Gehirnhälfte stärker sind. Sowohl diese funktionalen als auch strukturellen Unterschiede sind allerdings gemeinhin kleiner als es diverse Überschriften vermuten lassen, und lassen sich nur zeigen, wenn man große Gruppen von Männern und Frauen vergleicht.
Konkret befassen wir uns in unserer Kölner Arbeitsgruppe mit der Epidemiologie und Phänomenologie neuropsychologischer Änderungen bei Patient/innen mit Morbus Parkinson und anderen neurodegenerativen Erkrankungen wie der Alzheimer Demenz, der Diagnostik und Therapie neuropsychologischer Störungen bei Parkinson-Syndromen und den neuropsychologischen Modifikationen durch die Tiefe Hirnstimulation: Was ändert sich im Verlauf der neurodegenerativen Erkrankung, sind dabei Unterschiede zwischen Männern und Frauen messbar? Und natürlich – welche Konsequenzen sind dann für eine bessere Therapie notwendig?
Für uns steht außer Frage, dass das Geschlecht, und dies im sozio-kulturellen Kontext, eine relevante Determinante ist. Und es geht um wichtige und notwendige Erkenntnisse auf dem Weg zu einer individualisierten, personalisierten Medizin.

Parkinson ist nach Alzheimer die zweithäufigste neurodegenerative Erkrankung und nimmt in ihrer Bedeutung mit Blick auf eine älter werdende Bevölkerung zu ...

Prof. Kalbe: Prognosen gehen davon aus, dass sich die Zahl der Betroffenen bis zum Jahr 2030 in etwa verdoppeln wird. Wenn wir die Lebensqualität und Behandlungsmöglichkeiten dieser Patient/innen verbessern wollen, lohnt es sich, hier intensive Forschung zu betreiben. Aktuelle Studien haben bereits eine Reihe von Unterschieden zwischen den Geschlechtern ergeben: So erkranken Männer nicht nur häufiger, sondern auch früher an Parkinson. Bei Frauen trifft man eher den tremor-dominanten Subtyp an, d.h. sie leiden mehr am parkinson-typischen Zittern, aber weniger am Rigor, der ebenfalls häufigen Muskelsteifigkeit. Interessant ist auch, dass Männer und Frauen, was ihre Motorik betrifft, gleichermaßen von der Therapie durch die Tiefe Hirnstimulation, einen neurochirurgischen Eingriff in das Gehirn, profitieren. Festgestellt wurde aber auch, dass sich die gesundheitsbezogene Lebensqualität stärker bei Frauen durch diese Therapie verbesserte, wenngleich bei weiblichen Patienten wiederum mehr depressive Symptome verzeichnet werden.

Sie haben vor allem die kognitiven Prozesse bei den Erkrankten verfolgt ...

Prof. Kalbe: Als Partner in der vom BMBF geförderten multizentrischen Kohortenstudie „LANDSCAPE“, geleitet vom Universitätsklinikum Marburg, können wir auf eine gute Datenbasis zu kognitiven Störungen und Demenz bei über 600 Patient/innen mit Morbus Parkinson zurückgreifen. Wir konzentrieren uns dabei auf visuell-räumliche, sprachliche und Gedächtnisleistungen in verschiedenen Stadien, von der leichten kognitiven Störung bis zur Demenz.
Dabei ergab sich, dass Frauen zunächst – wie auch in der gesunden Bevölkerung feststellbar – verbal und in Bezug auf Gedächtnis besser sind, Männer sich dagegen bei räumlichen Aufgabenstellungen als besser erweisen. Im Verlauf der Erkrankung änderte sich das insofern, als dass Frauen – von ihrem höheren Level – rascher absanken, was verbale wie auch Gedächtnisleistungen betraf. Fazit für uns: Die Erkrankung beeinträchtigt im Hinblick auf kognitive Veränderungen Frauen stärker. Das ließ sich sowohl bei Parkinson wie auch bei Alzheimer feststellen.
Das ist nur einer der Punkte, die weitere Forschungen nach den Ursachen erforderlich machen.

Inwieweit spielen sozio-kulturelle Faktoren eine Rolle, die ja gerade in Bezug auf das Gehirn herangezogen werden?

Prof. Kalbe: Sicher eine nicht unerhebliche. So gibt es – durch familiären Kontext, Bildung, Aktivitäten im Laufe des Lebens – eine so genannte kognitive Reserve, die bei Erkrankungen wie den genannten zum Tragen kommt. Frauen, die heute in höherem Alter sind, hatten mit Blick auf ihre Biographie und ihren Lebensverlauf oft nicht so viele Möglichkeiten, derartige Reserven anzulegen. Das wird sich ändern – durch bessere Schulbildung, Berufstätigkeit, Eingebundensein in die Gesellschaft. Die Frage, wie sich das Gehirn von Frauen und Männern unterscheidet, ist deshalb nicht endgültig zu beantworten, sondern immer nur bezogen auf den aktuellen Wissensstand ... Wir leisten dazu mit unseren Forschungen einen Beitrag, der aber auch dazu auffordert, am Thema und damit an weiteren Forschungen dranzubleiben. Was nicht zuletzt bedeuten muss, dass die neu gewonnenen Erkenntnisse zum einen in die Lehre, aber auch in die Klinik und die Gesundheitsversorgung eingebracht werden müssen. Das betrifft zum Beispiel neuropsychologische Tests und Fragebögen, die auf Frauen wie Männer zugeschnitten sind, und natürlich Medikamente, die unterschiedliche Wirkmechanismen zwischen den Geschlechtern berücksichtigen sollten - eine Thematik, die ebenso noch intensiv bearbeitet werden muss. Und dies alles geht Wissenschaftler und Ärzte wie auch die Gesundheitspolitik gleichermaßen an. 

Das Gespräch führte Annegret Hofmann
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