Prof. Dr. Oliver Werz:
Männliche Maus, weibliche Maus – Geschlechterspezifik beginnt in der Grundlagenforschung

Schon in der Grundlagenforschung findet man biochemische und molekulare Mechanismen, die geschlechtsspezifische Unterschiede in der Pathophysiologie von Entzündungskrankheiten und Autoimmunerkrankungen hervorrufen, das konnte an der Universität Jena nachgewiesen werden. Geleitet werden diese Forschungen von Prof. Dr. Oliver Werz, Lehrstuhl für Pharmazeutische und Medizinische Chemie. Wir sprachen mit ihm.

Wie man auf der Website Ihres Instituts lesen kann, ist die „Geschlechtsspezifische Regulation von Entzündungsprozessen und deren pharmakologische Therapie - Gender-tailored therapy" einer Ihrer Forschungsschwerpunkte. Warum gerade dieses Thema und was sind die Ergebnisse?

Prof. Werz: Unsere Ausgangssituation war, dass Autoimmunerkrankungen, Asthma und andere entzündliche Erkrankungen bei Frauen bekanntlich häufiger auftreten als bei Männern. Zudem sprechen Männer und Frauen auf manche dabei eingesetzte Arzneistoffe ganz unterschiedlich an. Wir wollten deshalb jene biochemischen und molekularen Mechanismen aufspüren, die den geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Pathophysiologie von Entzündungskrankheiten und Autoimmunerkrankungen zugrunde liegen. Gerade in der Diskussion um eine optimierte Pharmakotherapie im Sinne einer „Personalisierten Medizin“ sollten ja geschlechtsspezifische Differenzierungen eine wichtige Rolle spielen. Was sie leider im Moment noch nicht tun!

Als wesentliche Erkenntnis folgte dann unsere Entdeckung der geschlechtsspezifischen Regulation der 5-Lipoxygenase, das ist das Schlüsselenzym der Bildung von Leukotrienen, durch Testosteron, die durch die extrazellulär Signal-regulierte Proteinkinase (ERK)-1/2 vermittelt wird.
Gewebshormone wie die Leukotriene tragen zu Asthma, allergischer Rhinitis und diverser anderer allergisch/entzündlicher Erkrankungen bei, und Leukotrienrezeptorantagonisten werden zur Asthmatherapie angewandt. Wir zeigten, dass Blut bzw. Leukozyten von Männern zwei bis fünfmal weniger entzündungsfördernde Leukotriene enthalten als Blut bzw. entsprechende Zellen von Frauen. Verantwortlich für diesen geschlechtsspezifischen Unterschied ist das männliche Sexualhormon Testosteron. Supplementierung von Testosteron zu Blut oder Leukozyten von Frauen unterdrückt die Leukotrienbildung.
Daraus ergibt sich eine ganze Reihe neuer Aufgabenstellungen für die Antileukotrientherapie mit einem geschlechterdifferenzierenden Blick.

Ihr Beispiel der Leukotrien-Synthese unterstreicht die Notwendigkeit, bereits in einem sehr frühen Stadium, in der Grundlagenforschung, die Frage einer Geschlechtsspezifik zu stellen. Ich habe aber sehr oft von Wissenschaftlern gehört, dass diese Notwendigkeit zu diesem Zeitpunkt noch nicht gesehen wird. Noch nicht in der Grundlagenforschung, heißt es dann...

Prof. Werz: Darin liegt aus meiner Sicht das Problem: In der Tat interessiert es im Moment nur wenige Forscher, ob die Zelle, mit der sie sich beschäftigen, männlich oder weiblich ist. Tatsache ist aber auch, dass damit bereits in diesem Stadium der Forschungen ganz wichtige Erkenntnisse verloren gehen können. Es gibt inzwischen eine Vielzahl von belastbaren Fakten dafür, dass diese Zellen höchst unterschiedlich reagieren. Was natürlich dann auch zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen bei der Wirkweise von Arzneistoffen führen kann. Hier muss unbedingt ein Umdenken einsetzen. Ich kann sagen, dass auch deshalb unsere Ergebnisse zur Leukotrienforschung große Aufmerksamkeit erzielen und ich optimistisch bin, dass wir hier etwas bewegen.

Sie haben kürzlich die amerikanische Wissenschaftlerin E.C. Hayden aus Nature, 2010, zitiert: „Der typische Schmerzpatient ist über 55 Jahre alt und weiblich. Das typische Forschungsobjekt in der Pharmazie ist jedoch eine acht Wochen alte männliche Maus.“ Das ist wohl immer noch die Realität...? Was hindert aus Ihrer Sicht die Pharmahersteller daran, hier grundsätzlich neu zu denken?


Prof. Werz: Ungeachtet der geschlechtsspezifischen Inzidenz der jeweiligen Erkrankung werden in pharmakologischen Studien fast immer männliche Versuchstiere verwendet, an klinischen Studien nehmen wesentlich trotz gegenteiliger Versprechungen immer noch mehr Männer teil. Erst seit 1993 werden zunehmend auch Frauen einbezogen. Begründet wird diese Zurückhaltung u. a. mit einer möglichen Schwangerschaft oder auch mit den Einflüssen durch den Zyklus der Frau. Für die Pharmahersteller gibt es aber auch noch einen anderen handfesten Grund: Je differenzierter die Anforderungen an die Studien in den verschiedenen Phasen, umso finanziell aufwändiger... So wäre es z. B. notwendig, in den klinischen Studien jeweils zwei Verum- und zwei Placebogruppen zu testen. 

Das Problem muss dennoch gelöst werden – im Interesse einer besseren Diagnostik und Therapie und letztlich der Kosten für die Gesellschaft. Unspezifisch wirkende Medikamente provozieren Nebenwirkungen, die zur Noncompliance führen, zu Arbeitsunfähigkeit, Krankenhausaufenthalten, hohem Leidensdruck, mangelnder Lebensqualität und zu noch weitaus drastischen Folgen, auch das ist teuer! Ein Umdenken in der Gesundheitspolitik und entsprechende gesetzliche Vorgaben müssen hier für Neuausrichtungen sorgen. Die heute oft beschworene individualisierte Medizin, die jedem seine ganz persönliche Therapie garantiert, ist noch Zukunftsmusik. Sorgen wir zunächst dafür, dass die Differenziertheit der Geschlechter ausreichend erforscht wird, um zu besseren Behandlungsmöglichkeiten für Frauen und Männer zu gelangen. Hier ist noch viel zu tun.