Psychische Erkrankungen früh erkennen: Betroffene und Umfeld sind sensibler geworden

Prof. Dr. Gudrun Schneider ist Leitende Oberärztin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster. Im April war sie Mit-Moderatorin einer Diskussionsrunde bei der 2. Frauengesundheitskonferenz der BZgA in Köln. Wir sprachen mit ihr.

Die 2. Frauengesundheitskonferenz hatte die psychische Gesundheit von Frauen zum Thema. In Ihrer Diskussionsrunde ging es um das frühzeitige Erkennen von psychischen Erkrankungen. Welche Erfahrungen machen Sie damit in der Klinik?

Prof. Schneider: Wir stellen fest, dass viele Frauen einen längeren Leidensweg hinter sich haben, ehe sie zutreffend diagnostiziert und therapiert werden. Von solchen Erfahrungen hörten wir auch in der Kölner Diskussion. Natürlich fragt man sich, was die Ursachen sind. Darauf gibt es keine einfachen Antworten, denn wir haben es hier mit dem Zusammentreffen sehr vieler Faktoren, individueller und gesellschaftlicher, zu tun und häufig mit sehr unspezifischen Frühsymptomen. Richtig ist, dass mit der öffentlichen Diskussion über psychische Erkrankungen die Sensibilität gewachsen ist. Veranstaltungen wie die Kölner Konferenz bringen uns dabei wieder ein Stück weiter.


In den letzten Jahren sind auch die Unterschiede hinsichtlich psychischer Erkrankungen bei Frauen und Männern stärker in die wissenschaftliche Diskussion gerückt – mit welchen Ergebnissen?

Prof. Schneider: Vieles muss neu gedacht werden. Wir haben es bei der Beurteilung psychischer Faktoren noch sehr häufig mit gesellschaftlichen Rollenbildern zu tun, die unser Verhalten prägen. Frauen seien sensibler, anfälliger, neigten eher dazu, emotional zu reagieren. Und tatsächlich sprechen viele Fakten dafür. Sie besagen z. B., dass Frauen etwa doppelt so häufig an Depressionen erkranken wie Männer. Wir wissen inzwischen, dass sich psychische Erkrankungen bei Männern aber in der Regel anders ausbilden als bei Frauen, nicht so sehr z. B. in depressiven, Angst- oder Essstörungen, sondern in Suchtverhalten, Aggressivität – und häufiger als bei Frauen in den Suizid münden. Männer, schlussfolgert man heute daraus, sind oft unterdiagnostiziert, was auch bedeutet, dass über neue Herangehensweisen und evtl. auch Therapieangebote nachgedacht werden muss. Eine geschlechterdifferenzierende betriebliche Gesundheitsfürsorge ist ein Weg dahin.
Unterschiede wurden in den vergangenen Jahren auch immer wieder in der Verordnungspraxis bei Frauen und Männern festgestellt, auch dies bleibt ein Feld für Studien, wissenschaftliche Arbeiten und letztlich der Medizinerausbildung.
Und weiter: Wir wissen, dass Frauen ihre psychischen Befindlichkeiten anders kommunizieren als Männer. Auch das muss in Betracht gezogen werden, eine Herausforderung nicht zuletzt für die Therapeuten.
Im übrigen stellen wir an unserer Klinik fest, dass die Zahl der Männer, die zu uns kommen, größer geworden ist, sich also die Sicht auf psychische Befindlichkeiten von Männern geändert hat, bei den Betroffenen selbst, die den Leidensdruck wahr- und nun auch ernstnehmen, wie möglicherweise auch zunehmend in ihrem privaten und beruflichen Umfeld. Das lässt hoffen, dass wir auf dem richtigen Weg einer geschlechtergerechteren Behandlung sind.

Sie erwähnten die sprechende Medizin. Beim Frauengesundheitskongress wurde ja an mehreren Stellen beklagt, dass hier in unserem Gesundheitssystem Defizite bestehen...

Prof. Schneider: Das ist einer der Gründe dafür, warum körperliche Symptome oft nicht in Zusammenhang gebracht werden mit psychischen Ursachen – bei Frauen werden psychische Störungen übrigens eher erkannt und angesprochen als bei Männern. Diese Dinge müssen hinterfragt werden, und das dauert seine Zeit. In den Hausarztpraxen, in der Regel die erste Anlaufstelle für Betroffene, ist dafür keine Zeit – und die sprechende Medizin wird nicht entsprechend honoriert. Gerade bei psychischen Erkrankungen ist dies verheerend. Obwohl darüber schon sehr lange diskutiert wird, gab es noch kaum Verbesserungen.

Ausführliche Berichte von der 2. Frauengesundheitskonferenz -
19. 4. 2016 in Köln:
www. Frauengesundheitsportal.de