Unzureichend wahrgenommen:
Faktor Geschlecht in der Fachliteratur

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10.01.2018
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Was erfahren Studierende über die Erkenntnisse der Gendermedizin in ihren Lehrbüchern? Wo können sich Ärztinnen und Ärzte informieren? Die Sozialwissenschaftlerin Sarah Hiltner hat sich – in Zusammenarbeit mit Prof. Sabine Oertelt-Prigione – zehn kardiologische Fachbücher, allesamt zwischen 2008 und 2012 im deutschsprachigen Raum erschienen, einmal näher angeschaut.
Aus Anlass des Wissenschaftlichen Kongresses des Deutschen Ärztinnenbundes erhielt sie im September 2017 den DÄB-Posterpreis gemeinsam mit Ulrike Uhlmann, Universität Mainz.
Wir sprachen mit ihr.


Wonach haben Sie geschaut?

Sarah Hiltner: Wir wollten wissen, ob die untersuchten Bücher Frauen und Männer gleichberechtigt darstellen, ob die nachgewiesenen biologischen Unterschiede der Geschlechter beim Herzinfarkt genannt werden, ob es Geschlechterverzerrungen gibt und ob sich die Mitwirkung von Autorinnen auf die Inhalte ausgewirkt haben. Dabei haben wir uns auf die am weitesten verbreiteten Fachbücher konzentriert, die z. B. in medizinischen Universitätsbibliotheken ausleihbar sind und entsprechend empfohlen werden.

Welches Bild ergab sich?

Sarah Hiltner: Um es kurz auszudrücken – ein eigentlich erschreckendes. Das Beispiel Kardiologie war ja nicht von ungefähr gewählt worden, immerhin gibt es hier z. B. in Bezug auf den Herzinfarkt umfassende Erkenntnisse zu den Geschlechterunterschieden. So hätte man annehmen können, dass dies bereits in die Fachliteratur Einzug gehalten hat. Mitnichten! Geschlecht, das zeigt auch die vorliegende Analyse, wird als wichtige Kategorie in der Medizin unzureichend wahrgenommen. Das ist ernüchternd.

Diese Situation bzw. konkret die Schilderung in einem der untersuchten Bücher hat Sie zu einem Cartoon (s. Ende Interview) angeregt, den wir unseren Leser/innen nicht vorenthalten möchten: Ein Infarktpatient solle hochgelagert werden und seine beengende Kleidung gelockert, explizit genannt die Krawatte ... 

Sarah Hiltner: Der Autor dieses Fachbuches hatte offenbar Frauen als Infarktpatientinnen gar nicht im Blick ... Das hat mich natürlich geärgert – und ist eigentlich typisch.
Die Beschreibungen des Herzinfarkts enthalten nur teilweise Hinweise darauf, dass er überhaupt bei Frauen relevant ist und potenziell unterschiedliche Symptome aufweisen kann. Wenn überhaupt, dann werden solche Unterschiede meist als atypisch bezeichnet. Solch ärgerliche Ignoranz fanden wir durchgängig.
Und daran änderte auch weibliche Autorenschaft nichts?
Sarah Hiltner: Im Großen und Ganzen nicht. Dazu muss man allerdings auch die Zahlen heranziehen: Von insgesamt 188 Autor/innen waren 25 weiblich, auch die Herausgeberschaft lag zu 87,5 Prozent in männlicher Hand.

Wie wollen Sie mit diesen Ergebnissen umgehen?

Sarah Hiltner: Sie sollten in jedem Fall wahrgenommen werden, dazu suche ich natürlich den Dialog mit allen, die in das Thema involviert sind. Ermuntert werden sollten vor allem Ärztinnen und Wissenschaftlerinnen, ihre Erkenntnisse und Erfahrungen in Fachbücher einzubringen. Ich glaube, man kann letztlich die Debatte um die Wahrnehmung von Gendermedizin nicht erfolgreich führen ohne gleichzeitig die Rolle von Frauen in Medizin und Wissenschaft zu stärken. 

Vielen Dank und viel Erfolg bei einer neuen Herausforderung: Sarah Hiltner, Gründungsmitglied unseres im Dezember in Potsdam ins Leben gerufenen Vereins zur geschlechtersensiblen Gesundheitsversorgung arbeitet seit Beginn 2018 an gendermedizinischen Themen an der Radboud Universität Nijmegen, Niederlande.

Das Gespräch führte Annegret Hofmann

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