Verordnungsgewohnheiten werden älteren Patientinnen und Patienten oft nicht gerecht

Prof. Dr. Gerd Glaeske leitet die Forschungseinheit Arzneimittelanwendungsforschung am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen. Ergebnisse seiner Forschung zeigen, dass weibliche Patientinnen hohen Alters geringe Chancen haben, richtig versorgt zu werden.

Die pharmazeutische Industrie wird nicht müde, hervorzuheben, dass sie klinische Studien auch unter Geschlechtsaspekten anlege. Ist das tatsächlich so?
Prof. Dr. Glaeske: In Deutschland gibt es für forschende Pharmaunternehmen keine wirkliche Verpflichtung, Forschungen auch mit Frauen durchzuführen. So wird in der 13. Novelle des Arzneimittelgesetzes nur die Empfehlung ausgesprochen, dass bei Gruppen getestet werden soll, denen der Wirkstoff später auch verabreicht wird. Allerdings ist die Häufigkeit vieler chronischer Krankheiten bei Frauen eindeutig höher, dennoch werden sie nur in maximal einem Drittel der jeweiligen klinischen Studien überhaupt beteiligt und in den Auswertungen berücksichtigt.

Spielt das Alter eine Rolle?

Prof. Dr. Glaeske: Klinische Studien haben dem bisher kaum Rechnung getragen. Bis auf Antidementiva gibt es kaum Wirkstoffgruppen, die auch bei älteren Frauen geprüft
wurden. Das ist bedeutend, weil ältere Menschen und vor allem Frauen einen immer größeren Anteil in der Bevölkerung darstellen werden. Eine gesteigerte und längere Lebenserwartung als die der Männer heißt auch, dass Arzneimittel über eine längere Lebenszeit eingenommen werden.

Und die Ärzte in der Praxis, gibt es bei ihnen eine Tendenz zu geschlechts- oder altersspezifischen Berücksichtigung in der Verordnungspraxis?
Prof. Dr. Glaeske: Es gibt keine Hinweise darauf, dass sich Verordnungsgewohnheiten von Ärzten geändert haben. In Deutschland haben wir ein Strukturproblem: Das Gesundheitswesen ist stark fragmentiert. Hausärzte, Fachärzte und Krankenausärzte verschreiben leider in den meisten Fällen völlig unabhängig voneinander, ohne dass der Behandlungsverlauf und die Arzneimitteltherapie koordiniert werden. Das hat beispielsweise zu Folge, dass 35 Prozent der Männer und 40 Prozent der Frauen über 65 Jahre neun Arzneimittelwirkstoffe und mehr in Dauertherapie bekommen.

Was bedeutet das für die Patienten?

Prof. Dr. Glaeske: Studien zeigen, dass der Körper eines Erwachsenen mittleren Alters gerade mal vier bis fünf Wirkstoffe verträgt. Dagegen können bei älteren Menschen die Verstoffwechselungsprozesse im Körper stark verlangsamt sein, weil Leber und Nieren weniger gut funktionieren als in jüngeren Jahren. Die Folge sind oftmals Leiden, die auf die Wechselwirkungen und Nebenwirkungen der hohen Anzahl eingenommener Wirkstoffe zurückgehen. Ein weiteres Problem ist, dass viele ältere Menschen und vor allem Frauen im hohen Alter ein relativ niedriges Körpergewicht haben. Wird hier wie bei einem Menschen mittleren Alters dosiert, ist eine Überdosierung und Fehlversorgung vorprogrammiert.

Letztlich geht es auch um die Sensibilisierung der Patienten. Gehen Ärzte darauf ein?
Prof. Dr. Glaeske: In der Arzt-Patient-Beziehung fehlen oftmals noch geeignete Kommunikationsstrukturen. Ärzte nehmen Geschlechtsunterschiede und Alter in der Kommunikation über Diagnostik und Behandlung kaum wahr. Eine Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung zeigte beispielsweise, dass Patienten sich wenig oder gar nichts von dem merken konnten, was der Arzt ihnen in der Sprechstunde gesagt hatte, obwohl die Ärzte meinten, die Information patientengerecht angeboten zu haben. Fremd- und Eigenwahrnehmung liegen hier offenbar weit auseinander.

Was können Patienten besser machen?

Prof. Dr. Glaeske: Patientennäher funktioniert die Kommunikation bisher in der Apotheke und noch besser bei den pflegenden Berufen wie dem Pfleger oder der Schwester im Krankenhaus, die ohnehin viel mehr Zeit mit den Patienten verbringen als die Ärzte. Hier fragt der Patient mit eigenen Worten auf gleicher Kommunikationsebene nach, die Aufgeregtheit wie in der Arztpraxis ist hier kaum noch eine Verständnisbarriere. Patientinnen und Patienten sollten mehr fragen, das ist ihr gutes Recht. Sie müssen für sich selbst Informationen gezielt einfordern und nicht immer warten, bis ihnen die Kommunikation angeboten wird!

(Das Gespräch führte Aline Klett, anna fischer project)