Aufmerksame Zuhörerinnen: Panel-Moderatorin Isabel Straka (vorne) und Silke Oelkers, Barmer/GEK
Foto: Daniela Kühn/Contentic

Workshop zu geschlechtsspezifischer Medizin in Bochum:
Neue Konzepte für eine differenzierte Gesundheitsversorgung dringend notwendig

Bochum/Berlin, 19. Mai 2012. Geschlechtsspezifische Medizin muss stärker kommuniziert werden! Das gehört zu den wesentlichen Botschaften, die vom 2. Workshop des Netzwerks „Gendermedizin & Öffentlichkeit“ am 16. Mai in Bochum ausgingen. Rund 70 Teilnehmer/innen aus Medizin, Forschung, Institutionen des Gesundheitssystems und Politik waren der Einladung des Netzwerks und des Landeszentrums Gesundheit NRW zu „Sie tickt anders. Er auch. Geschlechterspezifik in Medizin, Pflege, Forschung, Lehre" gefolgt. Marlis Bredehorst, Staatssekretärin im Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen, verwies in ihren Begrüßungsworten darauf, dass die geschlechter- und altersgerechte Gesundheitsversorgung entsprechende Konzepte benötige: „Die Probleme sind erkannt, aber in der Praxis fehlt es an den notwendigen Schlussfolgerungen.“

PD Dr. med. Andrea Kindler-Röhrborn, Universität Essen, erläuterte in ihrem Vortrag die unterschiedlichen „Baupläne“ von Mann und Frau und die genetische Differenziertheit beider Geschlechter. Prof. Dr. Petra Thürmann, Wuppertal, Expertin in Fragen der Pharmakotherapie, nannte zahlreiche Beispiele für die medikamentöse Unter-, Über- und Fehlversorgung sowohl von Männern und Frauen. Hier seien nicht nur die Forscher, sondern vor allem auch die Ärzt/innen gefordert, genauer hinzuschauen und die Patientin, den Patienten in seiner konkreten Verfasstheit und seinen Lebensumständen wahrzunehmen.

Dem Klischee, Männer seien per se „Vorsorgemuffel“, widersprach Thomas Altgeld. Der Psychologe engagiert sich für Männergesundheit. So gehen Männer über 75 häufiger zu Krebsvorsorgeuntersuchungen als Frauen gleichen Alters. In der Kommunikation mit Männern zu Gesundheitsthemen und Vorsorge werde die richtige Ansprache noch nicht immer gefunden, so Altgeld: „ Männer wollen konkrete Hilfe statt Krisentalk.“

In drei Podiumsrunden ging es um wichtige Aspekte, die für eine differenziertere Gesundheitsversorgung relevant sind.
Dazu zählt vor allem die Versorgungsforschung. Prof. Dr. Ursula Härtel, München, und Dr. Hendrik Okonek, Bad Lippspringe, stellten, als Protagonisten geschlechtsspezifischer Reha-Programme in der Kardiologie, ihre Konzepte vor. Gesundheitsprogramme, die geschlechterorientiert sind, seien oft ein Organisationsproblem, nicht ein oft beschworenes finanzielles. Dass sie effizienter in Bezug auf den Erfolg sein können, bewiesen Erfahrungen bei kardiologischen Patientinnen in Bayern, so Härtel. Ein vergleichbares Projekt realisiert Dr. Okonek jetzt am Medizinischen Zentrum in Bad Lippspringe.
Prof. Dr. Clarissa Kurscheid, Köln, kritisierte, dass die Gesundheitsökonomie und mithin die Versorgungsforschung den geschlechtsspezifischen Ansatz viel zu wenig oder gar nicht im Blick habe. „Individuelle Medikation und individualisierte Medizin unter Genderaspekten würden mittelfristig Geld sparen und zu mehr Erfolg führen.“ Das betreffe auch die Herausforderungen, die aus der älter werdenden Bevölkerung heraus erwachsen. Auch hier müsse der Blick geschärft werden, müsse praxisorientierte Begleitforschung zu neuen Ergebnissen kommen.

Pflege und Familienmedizin unter geschlechtsspezifischen Aspekten standen im Fokus einer weiteren Diskussionsrunde. Silke Oelkers, Barmer GEK Wuppertal, erläuterte ein Projekt der Krankenkasse, deren Versicherte zum großen Teil weiblich sind. Es gehe darum, die Doppelbelastung für Pflegende mit entsprechenden Angeboten zu minimieren.
Dazu die Hausärztin Dr. med. Marie-Luise Fasshauer, Wuppertal: „Pflegende, und das betrifft immer noch in der Regel Frauen, sind gesundheitlich hoch belastet, das erlebe ich täglich in der Sprechstunde. Hier ist eine besondere Sensibilität der Ärzt/innen notwendig.“
Prof. Dr. Ingo Füsgen, Geriater und Hochschullehrer in Witten/Herdecke, informierte über Studien, die die bisher wenig beachtete Unterschiedlichkeit bei Männern und Frauen auf dem Gebiet der Urologie untersuchten. „Gerade in der Pflege, ob ambulant oder in Heimen, werden solche Unterschiede unberücksichtigt gelassen – auf Kosten der Lebensqualität der zu Pflegenden.”

Geschlechtsspezifik in der Aus-, Fort- und Weiterbildung war dasThema, dem sich die dritte Podiumsrunde widmete.
Prof. Dr. Dr. Bettina Pfleiderer, Münster, stellte ein von den Unis Münster und Essen gemeinsam entwickeltes geschlechtersensibles fachübergreifendes Lehrmodul für das Medizinstudium vor. „Ich befürchte, dass es zu spät ist, wenn man die junge Ärztinnen und Ärzte erst nach dem Studium mit dem Thema konfrontiert.“ Welche Möglichkeiten es gibt, auch später dazu neue Kenntnisse zu erwerben, erläuterte Dr. med. Doris Dorsel, Ärztekammer Westfalen-Lippe. Seit zehn Jahren werde diese Thematik z. B. bei Fortbildungsveranstaltungen zu Stoffwechselerkrankungen angeboten. „Leider ist es immer noch so, dass Vortragende in der Regel männliche Kollegen sind, im Auditorium aber in der Mehrzahl Frauen sitzen.“
Für die Apotheker sei das Thema Geschlechtsspezifik insofern nicht so neu, weil schon in der Ausbildung die geschlechtsdefinierten Rezeptoren bei der Medikamentenaufnahme eine Rolle spielten, erläuterte Dr. Constanze Schäfer, Apothekerkammer Nordrhein.

In der anschließenden lebhaften Diskussion kam zum Ausdruck, dass Kommunikation und multiprofessionelle Zusammenarbeit wichtige Schwerpunkte zur weiteren Etablierung einer geschlechtsspezifischen Medizin seien. So müssten nicht nur Expert/innen in eine letztlich gesamtgesellschaftliche Debatte zu diesem Thema einbezogen werden, in der es um bessere und effizientere medizinische Versorgung und höhere Lebensqualität für alle gehe.