„Kein kleiner Unterschied –
geschlechtergerechte Gesundheitspolitik
am Beispiel von Covid-19“

Artikel
29.06.2020
Vom Fachgespräch „Kein kleiner Unterschied - geschlechtergerechte Gesundheitspolitik am Beispiel von Covid-19“ (24. Juni)berichtet Dr. Ute Seeland.

Worum ging es?
Dr. Kirsten Kappert-Gonther MdB (Sprecherin für Gesundheitspolitik) und Ulle Schauws MdB (Sprecherin für Frauenpolitik) von der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen wollten wissen wie die längst überfällige Entwicklung einer geschlechtergerechten Gesundheitspolitik forciert und beschleunigt werden kann! Die medizinische Forschung, Lehre und Versorgung orientiert sich immer noch stark an einem männlichen Normkörper. Frauen und alle jene, die vom Modell „Mann“ abweichen, laufen Gefahr, deswegen bei vielen Erkrankungen falsch oder zu langsam diagnostiziert und behandelt zu werden. Was können wir aus den Forschungserkenntnissen über die Covid-19-Pandemie lernen?

Wer ist der Einladung gefolgt und hat am Livestream teilgenommen?
Nicht binär 2%, männlich 12%, weiblich 86%.

Dr. Kirsten Kappert-Gonther
Stellt heraus, dass der Frauenanteil im Gesundheitswesen bei den Führungspositionen teilweise bei 0% liegt! Solange das so bleibt, fehlt die Multiperspektivität. Daher haben die Grünen einen Antrag für den Bundestag vorbereitet, der die Quote fordert.

Prof. Dr. med. Dr. h.c. Vera Regitz-Zagrosek
Gender wird als ein Spektrum verstanden. An den Enden stehen weiblich und männlich, viele andere Orientierungen mitten drin. Das zweite X-Chromosom hat eher schützende, vorteilhafte Wirkung, da es nicht immer komplett abgeschaltet wird. Die Umwelteinflüsse sind ganz wesentlich prägend und sind epigenetisch nachhaltig konserviert, indem es zu modifizierten DNA Verpackungen der Gene kommt. Diese Unterschiede können dann im Phänotyp, dem äußeren Erscheinungsbild sichtbar werden. Sexualhormone haben einen wesentlichen Einfluss auf die Geschlechterunterschiede sowohl biologisch als auch auf das Verhalten. Testosteron z.B. für Wachstum aber auch Aggressionen.
Geschlechterunterschiede gibt es bei vielen Erkrankungen wie Depressionen, Blasenentzündung, Asthma, Myokardinfarkt, plötzlicher Herztod… und auch bei der COVID-19-Erkrankung.
Daten aus Frankreich zeigen, dass gleich viele Frauen und Männer in den Krankenhäusern aufgenommen werden, 1,7 x so viele Männer im Vergleich zu Frauen aber sterben. Im jüngeren Alter sterben sogar 3 x so viele Männer wie Frauen. Diese epidemiologischen Beobachtungen sind in anderen Ländern ähnlich.
Interessant ist, dass sich seit dem Lockdown seit Mitte März mehr Frauen als Männer in jüngeren Altersgruppen 20-30 und 30-40 Jahre infiziert haben. Postuliert werden hier die sozialen Bedingungen, d.h. dass die Frauen häufiger in Berufen arbeiten, die einen menschlichen Kontakt einschließen im Vergleich zu Männern, die oft eine Rückzugsmöglichkeit im Büro oder Homeoffice finden. Zusätzlich können die biologischen Unterschiede durch den Einfluss der Östrogene und Androgene auf die Regulation von ACE-2 und die bessere Immunabwehr bei Frauen eine Rolle spielen. 

Dr. med. Christiane Groß
Sie nimmt den Aspekt der Kontaktinfektionen noch einmal auf und appeliert, die erhobenen Daten getrennt nach dem Geschlecht auszuwerten, denn 75% im Gesundheitssystem sind weibliche Mitarbeiterinnen, die sich auch um die Versorgung der COVID-Erkrankten kümmern.
Wie ist das mit dem Rollenbild in unserer Gesellschaft? Kommt es zu einer „Rolle rückwärts“? Dr. Groß spricht die Zukunft der Kinder an, es bestehe die Gefahr, dass Kinder wieder Rollen erkennen, die sich an den alten Rollenbeispielen orientieren, es zu sozialen Rückschritten kommt und Retraditionalisierung entsteht. Daher ist es besonders wichtig, diesem vorzubeugen und diese Probleme immer wieder ansprechen. Es ist zu hoffen, dass die Frauen, die jetzt aktiv sind, es schaffen, diese Rolle rückwärts aufzuhalten.
Die Digitalisierung kann auch einen Beitrag liefern, denn mit einer vernünftigen elektronischen Patientenakte können mehr Daten zur Genderforschung genutzt werden.
Der fehlende Genderblick schadet allen Geschlechtern, so ist die Psychosomatik eher bei Männern ein Problem, die schwer behandelbare Schmerzsymptomatiken entwickeln können, obwohl das Problem eher eine mangelnde Fähigkeit der Angst- und Stressbewältigung sein kann.

Was können wir tun?
Mehr Vielfalt in den Gremien fordern und umsetzen, indem bewusst wird, dass es u.a. an uns Frauen liegt, die ihre Rechte stärker einfordern müssen. Quote fordern!
Spitzenfrauen Gesundheit e.V. ist parteiübergreifend neu gegründet worden. Wer mitredet, wird gehört!
Daten zu Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten aus klinischen Studien müssen analysiert und publiziert werden. Das gilt auch für alle anderen Bereiche, da die Daten meistens vorhanden sind, nur nicht nach dem Geschlechteraspekt analysiert werden.
Eine Verbindlichkeit in der Lehre wird gefordert und viel zu wenig umgesetzt. Hier mangelt es an Lehrstühlen für die Gendermedizin und der Implementierung als Querschnittsfach in die medizinischen Disziplinen. Neue Approbationsordnung mit gestalten!
Daten mehr in die Öffentlichkeit bringen. Zum Beispiel sollten die Frauen sich informieren und ihre behandelnden Ärzte und Ärztinnen fragen, ob die Medikamente denn auch für sie getestet worden sind?
Und vieles mehr …

https://www.youtube.com/watch?v=zMKdlAA3R6Y

Ulle Schauws
Die Moderatorin fasst zusammen dass der Gendergap geschlossen werden muss, nicht nur aus Gerechtigkeit, sondern auch aus Sicherheit für die Patientinnen und Patienten.
Sie weist auf folgende wesentliche Punkte hin, die bei den Forschungsvorhaben und den Diskussionen immer mitgedacht werden müssen. Der intersektionale Blick – häufig kommen viele Diskriminierungsaspekte zusammen. Stigmatisierung ist oft ein großes Problem.
Queer-politische Positionen müssen gehört werden. Dazu gehört der Umgang mit der Rolle und Identität von trans- und intergeschlechtlichen Menschen. Bisher dominiert das binäre und patriarchale Denken in der Medizin. Awareness !
Sie schließt die Veranstaltung mit dem Leitsatz: Bildet Banden - nur Seit an Seit kommen wir voran!

Mehr zum Thema