Gender-Data-Gap bei Apps
Die berühmte Daten-Lücke schließen!

Interview
12.12.2022
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Chantal Beutter
Auf Rezept erhältliche Gesundheits-Apps sind nach einer Studie der Techniker Krankenkasse (TK) vor allem bei Frauen gefragt. Auf sie entfielen zwei Drittel (66,5 Prozent) der Rezepte, wie die Kasse nach einer Auswertung der Verordnungen für eigene Versicherte von Oktober 2020 bis Ende Dezember 2021 mitteilte.
Beliebt bei Frauen, aber auch – auf der Grundlage der geschlechtersensiblen Medizin– für Frauen gemacht?
Chantal Beutter, Medizin-Informatikerin beim Heilbronner MOLIT-Institut, hat gemeinsam mit einem Team eine App entwickelt, die Patientinnen und Patienten dabei helfen soll, bei der Bewältigung ihrer Erkrankung kompetent mitzuwirken und selbstbestimmend, gemeinsam mit dem Arzt, der Ärztin, Entscheidungen über den Therapieverlauf zu treffen. Lebensqualität verbessern, Wege zur personalisierten Medizin beschreiten, das ist das Ziel. Wir sprachen mit Chantal Beutter:


Die von Ihnen mitentwickelte Lion-App soll Patientinnen und Patienten das Leben mit ihrer Krankheit und die Kommunikation mit dem Arzt, der Ärztin erleichtern. Das haben Sie in verschiedenen Nutzertests auf Brauchbarkeit und Sinnhaftigkeit untersucht. Mit welchem Ergebnis?

C. Beutter: Wichtig war uns, um das anfangs zu sagen: Nutzerinnen und Nutzer sollten die App möglichst unkompliziert anwenden können, also mit einem gebräuchlichen mobilen Endgerät wie z. B. einem Tablet oder Smartphone, das heißt, wiederum als Beispiel, hinterlegte Fragebögen können einfach zugewiesen werden. Die Patientinnen und Patienten dokumentieren ihre Lebensqualität, so dass der Arzt/die Ärztin eine erweiterte Datengrundlage hat, aufgrund derer er oder sie personalisierte Entscheidungen zur weiteren Behandlung treffen kann. Alles soll leicht bedienbar und verständlich sein. Das haben die Testpersonen, ob männlich oder weiblich, insgesamt gut angenommen. Wir haben dabei beobachten können, dass uns mehr Frauen in der Entwicklung unterstützt haben als Männer. Das kann sich allerdings auch aus den lokalen Strukturen der Selbsthilfegruppen ergeben haben, mit denen wir kooperieren.
In unserem letzten Nutzertest konnten wir außerdem die Tendenz beobachten, dass Frauen regelmäßiger mit der App interagieren, d.h. sie aktiv nutzen. Auch bei den Funktionen innerhalb der App wurde der Großteil der im Zeitraum des Tests verfassten Tagebucheinträge von Frauen erstellt. Um den Effekt dieser Tendenzen jedoch wissenschaftlich zu bestätigen, sind weitere Untersuchungen notwendig.

Vielleicht berührt das nicht zuletzt ein grundlegendes Problem der Entwicklung von Apps, der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz? Diese Produkte können nur so gut sein wie die Daten, die ihnen zur Verfügung stehen ...
Ich zitiere aus einem Interview, das Dr. Christiane Groß, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes und seit langem auch mit dem Thema befasst, gab:
„Lernende Systeme der Künstlichen Intelligenz ziehen aus den vorhandenen Daten Muster und leiten daraus Regeln ab. Die selbstlernenden Algorithmen reproduzieren also bisherige Lebenswelten und damit auch Ungleichheiten – wenn sie nicht entsprechend anders programmiert sind. Das Problem ist, dass wir nicht wissen, inwiefern das Bewusstsein für geschlechtsspezifische Unterschiede bei den Technikern und Entwicklern einer solchen App überhaupt vorhanden ist. Wenn wir schon in der analogen Welt nicht alle verinnerlicht haben, dass es diese Unterschiede bei der Symptomatik und der Behandlung von Männern und Frauen gibt, dann werden auch in Apps die Symptome so verarbeitet, wie sie in der analogen Welt fälschlicherweise bekannt sind – ohne das Bewusstsein, dass es diese Unterschiede gibt.“


Ch. Beutter: Sicher ist das ein Problem, dem nicht nur wir uns als Entwickler/innen viel stärker widmen müssen. In vielen Branchen muss ein Umdenken, wie auch in der Medizin, stattfinden, um die Algorithmen der Künstlichen Intelligenz auf Basis dieses neuen Wissens trainieren zu können.
Wir haben im Prozess der App-Entwicklung durch eine intensive Zusammenarbeit mit einer Expertin der geschlechtersensiblen Medizin, Professorin Dr. Dr. Bettina Pfleiderer, bei der ich meine Doktorarbeit schreibe, das Augenmerk auf geschlechterabhängige Unterschiede legen können. Auch wenn bei den bisherigen Funktionen ausschließlich Tendenzen erkannt werden konnten, sind wir gerade in der Vorbereitung eines aufbauenden Projekts zur Erweiterung der untersuchten Aspekte auf das Geschlecht.
Da die bisher untersuchten Funktionen keine eindeutigen Erkenntnisse für geschlechterabhängige Unterschiede zeigen konnten, wurde eine erste allgemeine Version der App veröffentlicht, die allerdings nach Abschluss der Folgeuntersuchungen durch geschlechterabhängige Spezifikationen angepasst oder erweitert werden kann.
Ich freue mich, neues Wissen im Rahmen der Gender Data Gap zu generieren – zum Nutzen aller Patienten, ob männlich oder weiblich.

Das Interview führte
Annegret Hofmann





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