Geschlecht in Corona-Zeiten:
Es geht auch um Schutzkleidung, Masken, Tracking-Apps

Interview
29.06.2020
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Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione, Radboud-Universität Nijmegen, hat in Zusammenhang mit der Arbeit der Expert*innengruppe „Gendered Innovations / Innovations through Gender“ der EU-Kommission, die seit 2018 existiert, eine Case Study zu Geschlecht und COVID-19 geschrieben. Wir sprachen mit ihr darüber.

Warum diese Studie? 

Prof. Oertelt-Prigione: Es geht vor allem, die Relevanz des Themas insbesondere Antragsstellenden und Gutachter/innen wie auch der Kommission zu vermitteln. Die Kommission möchte in der zweiten Finanzierungsrunde von COVID-19-bezogener Forschung das Thema Sex und Gender besser hervorheben.

Wie ist die Ausgangslage, was sagen die hinzugezogenen Daten aus?

Prof. Oertelt-Prigione: Das Coronavirus, so stellt es sich jedenfalls im Moment dar, scheint Männer stärker zu treffen als Frauen. Das erfahren wir vor allem aus den Klinikstatistiken. Falls Pflegeeinrichtungen auch mit ausgewertet werden, wie z.B. in Kanada und Belgien, kann dieser Unterschied aktuell nicht bestätigt werden.
Neben den biologischen Unterschieden, die den Krankheitsverlauf beeinflussen können, spielen „Gender”-Aspekte, also die Beachtung sozio-kultureller Fakten, auch eine wichtige Rolle. Demographische und ökonomische Unterschiede können die Infektion beeinflussen, ebenso wie strukturelle Entscheidungen, wie z.B. die Festlegung der Symptome zum Zugriff auf einen Test.

Die Case Study beleuchtet verschiedene Aspekte: a) Geschlechterunterschiede zwischen männlichem und weiblichem Immunsystem, b) die Rolle von Geschlecht bei Therapie und Vakzinentwicklung, c) Geschlechterunterschiede im Gesundheitssystem und deren Einfluss auf das persönliche Risiko, d) Geschlechterunterschiede beim Präventionsverhalten und e) Geschlechterunterschiede auf struktureller und ökonomischer Ebene und potenzielle Langzeiteffekte der Pandemie.

Was empfiehlt die Studie den Entscheider/innen?

Prof. Oertelt-Prigione: Natürlich gibt es konkrete Empfehlungen für die Einbindung der Geschlechterdimension in die EU-Forschungsförderung und Forschungspolitik.

Die erste allgemeine Forderung passt zu den bereits bestehenden Anforderungen der EU Förderung, die allerdings leider nicht in dem gewünschten Maße umgesetzt werden, und zwar: Alle Studien sollen geschlechter-getrennte Daten erheben, diese geschlechts-spezifisch analysieren und auch veröffentlichen. Das klingt fast banal, ist aber weit entfernt von der aktuellen Realität.

Im Rahmen der aktuellen Aktivitäten ist die Forderung, dass Geschlecht idealerweise bei der Rekrutierung für Studien berücksichtigt werden sollte – bei der Auswahl und Verabreichung von Therapien und Impfstoffen ebenso wie bei der Untersuchung der Langzeitfolgen der COVID-19-Erkrankung. Fragen, die sich weiter daraus ergeben, sind u.a.: Reagieren Männer und Frauen mehr oder weniger intensiv auf mögliche Therapien und Impfstoffe? Entwickeln sie unterschiedliche Nebenwirkungen?

Zusätzlich ist die Erforschung der Rolle von Geschlecht bei der Akzeptanz von Präventionsempfehlungen, bei der Entwicklung von Tracking-Apps und bei der Entwicklung von Schutzkleidung zu berücksichtigen. Entsprechende Erhebungen zeigen die höhere Bereitschaft von Frauen, sich regelmäßig die Hände zu waschen, aktuell scheint das auch beim Tragen von Masken zuzutreffen.

Wie können wir nun die gesamte Bevölkerung zur Prävention animieren? Ist dabei eine geschlechtsspezifische Ansprache sinnvoll? Sind unterschiedliche Geschlechter eventuell Tracking Apps gegenüber voreingenommen, aufgrund von früherer Diskriminierungserfahrung? Wie entwickeln wir Schutzkleidung, die allen Mitarbeitenden im Gesundheitswesen passt und nicht nur einem standardisierten männlichen Gesicht und Körper?

Weiterhin sollte die gesellschaftliche Dimension der Pandemie geschlechtersensibel untersucht werden, auch in Hinblick auf mögliche gesundheitliche Folgen. Wer erlebt womöglich mehr Stress aufgrund von Mehrfachbelastung und beruflicher Unsicherheit? Welche Berufe sind systemrelevant und inwiefern stellt das tradierte Geschlechterrollen in Frage? Können wir mit einem Anstieg an psychischen Beschwerden, Depressionen, Angstzuständen rechnen und wird dieser potenziell unterschiedliche Geschlechter unterschiedlich treffen? Kann das Infragestellen von Geschlechterrollen möglicherweise zu mehr häuslicher Gewalt führen und all ihren physischen und psychischen Folgen?

Mit Prof. Örtelt-Prigione sprach Annegret Hofmann

Die Case Study ist unter diesem Link zu finden:
https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/4f419ffb-a0ca-11ea-9d2d-01aa75ed71a1/language-en

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