Individualisierte Medizin rückt auch Geschlecht in den Vordergrund

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Prof. Dr. Petra Thürmann, Direktorin des Philipp Klee-Instituts für Klinische Pharmakologie, Wuppertal, plädiert seit langem für den geschlechtsspezifischen Blick in der Pharmakotherapie. Beim Workshop „Sie tickt anders. Er auch.“ des Netzwerks „Gendermedizin & Öffentlichkeit“ am 16. Mai 2012 in Bochum hielt sie dazu einen der Eröffnungsvorträge. Wir sprachen mit ihr.

Seit kurzem sind Sie Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. In diesem Gremium sind – bei insgesamt sieben Mitgliedern – drei Frauen, fast schon Parität... Das lässt hoffen, dass der geschlechtsspezifische Ansatz in der Medizin, der ja erfahrungsgemäß vor allem von Frauen vertreten wird, nun im SVR zunehmend ein Thema ist?

Prof. Thürmann: Soweit sich das in den Themen anbietet, achten wir selbstverständlich auf den geschlechtsspezifischen Aspekt, sowohl seitens der Patientinnen und Patienten aber auch seitens der Ärztinnen und Ärzte bzw. weiblichen und männlichen Pflegekräfte.

Sie sind als vehemente Verfechterin eines Umdenkens in der Pharmakotherapie bekannt, weisen immer wieder auf die häufig noch vorhandenen Probleme bei einer wirkungsvollen – und nebenwirkungsarmen/freien  medikamentösen Behandlung von Frauen hin. Geht es aber nicht generell darum, Arzneimittel wirkungsgerechter einsetzen zu können? Sind solche Fehlversorgungen auch bei Männern nachzuweisen? Und ist der gesunde weiße Mann in den Zwanzigern, der bei Medikamentenstudien zuerst gefragt ist, nicht auch die falsche Testperson für den 75-jährigen Mann, der verschiedene Grunderkrankungen hat?

Prof. Thürmann: Selbstverständlich sind ältere und hochbetagte Männer genauso wie ältere und hochbetagte Frauen dem Risiko ausgesetzt, dass Medikamente – aufgrund des erhöhten Lebensalters – anders, insbesondere stärker, wirken. Aber auch im hohen Lebensalter kommt hinzu, dass Frauen oftmals sehr leichtgewichtig werden, wohingegen dieser extreme Abbau von Muskelmasse von Männern meistens nicht so stark ausgeprägt ist. D.h., gerade alte bzw. hochbetagte Frauen haben das allerhöchste Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen.
Von dem Lebensalter abgesehen, werden Arzneimittel auch heutzutage immer noch – vor allen Dingen in den frühen Phasen der Entwicklung – mehr bei Männern getestet als bei Frauen. In einigen Krankheitsgebieten sind Frauen auch in den klinischen Studien, in denen die Therapie in einem annäherungsweise realen Setting überprüft werden soll, teilweise noch unterrepräsentiert. Allerdings muss man anerkennen, dass in den letzten Jahren tatsächlich deutlich mehr Studien darauf angelegt sind, Männer und Frauen gleichermaßen zu berücksichtigen bzw. dass sich Informationen über mögliche geschlechtsspezifische Unterschiede viel häufiger in den Packungsbeilagen finden, als es noch vor 10 oder gar 20 Jahren der Fall war.

Warum tun sich Pharmahersteller so schwer, dieses neue Thema einer stärker differenzierten Herangehensweise bei der Medikamentenentwicklung aufzugreifen, immerhin könnten sich ja auch neue Geschäftsfelder auftun. Ist es „lediglich“ das offenbar teure und bürokratische Procedere bei der Zulassung eines neuen Medikaments? Inwieweit befassen sich – aus Ihrer Erfahrung heraus  forschende Arzneimittelhersteller mit diesem Thema? Und die andere Facette: Warum ist es so schwer, bei den Ärzten und Ärztinnen in Klinik und Praxis für ein geschlechtsspezifisches Herangehen offene Ohren zu finden. Immerhin trifft man unter ihnen nicht wenige, die zugeben, sich darüber noch selten oder nie Gedanken gemacht zu haben bzw. als gegeben annehmen, dass sie alles darüber schon wüssten.

Prof. Thürmann: Verständlicherweise wäre es für Ärztinnen und Ärzte, und auch die pharmazeutische Industrie, sehr viel einfacher, wenn Patienten sich nicht so deutlich unterscheiden würden! Im Hinblick auf die pharmazeutische Industrie muss man schon deren Anstrengungen anerkennen, geschlechtsspezifische Unterschiede zumindest zu identifizieren. Das Problem liegt mittlerweile eher darin, dass die gefundenen Unterschiede oftmals nicht sehr groß sind, sich teilweise mit Alters- und anderen Unterschieden vermengen und statistisch nicht nachweisbar sind. Was nun fehlt, ist das letzte Quäntchen einer Konsequenz: beispielsweise eines Vorschlags für eine niedrigere Dosierung bei leichten Frauen. Da es hierzu dann in der Regel keine zusätzlichen Studien gibt, ist dies nur ein indirekter Rückschluss von einer geringen Anzahl von Patientendaten, sodass es den Herstellern schwer fällt, hier eine gute Evidenzlage zu präsentieren. Hier wäre vor allen Dingen auch die Aufgabe der Ärztinnen und Ärzte sowie der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, nach der Zulassung von Medikamenten verschärft diesen Unterschied zu betrachten und zu analysieren.
Und hier kommen wir zu dem Thema Bewusstsein in den Medizinprofessionen: Viele Ärztinnen und Ärzte nehmen den Geschlechterunterschied mehr oder weniger unterbewusst wahr und stellen sich sicher darauf ein. Immerhin haben wir in den letzten Jahren bei einigen Krankheiten ganz klar gelernt, dass die Symptome, beispielsweise bei Depressionen oder bei einem akuten Herzinfarkt, bei Frauen und Männern deutlich unterschiedlich sind und dies findet Eingang in Fortbildungsveranstaltungen. Der allseits interessierte Arzt bzw. die allseits interessierte Kollegin hat keine Mühe, auf vielen Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen und Kongressen, sich Vorträge zum Thema geschlechtsspezifische Unterschiede anzuhören.
Bei vielen wissenschaftlichen Erkenntnissen geht man davon aus, dass es ca. 10 Jahre benötigt, bis sie wirklich die Praxis der Medizin erreichen. Wenn dies schon „handfeste“ Daten anbetrifft, so dauert es bei sogenannten „weichen“ Faktoren noch ein bisschen länger!
Allerdings sehe ich in der derzeitigen Tendenz einer „individualisierten Medizin“ eine gute Chance, auch den Aspekt Geschlecht noch einmal in den Vordergrund zu rücken.
(Mit Prof. Thürmann sprach Annegret Hofmann.)
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