Gender - Versorgung neu denken

Statement von Silke Ölkers, Abteilungsleiterin Grundsatzfragen und Produktentwicklung Barmer GEK, am 2. März 2011 auf dem Workshop Gendermedizin & Öffentlichkeit in Berlin.

"GENDER" prägt die BARMER GEK seit einigen Jahren und ist fest in den Unternehmensstrukturen und Prozessen verankert. Dies gilt sowohl bei der Versorgung unserer ca. 8,5 Millionen Versicherten als auch mit Blick auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Bei der BARMER GEK stehen Frauen und Männer in ihren jeweiligen Lebenslagen und Lebensphasen im Mittelpunkt.

Dennoch stehen wir erst am Anfang und sehen das Thema Gender als Zukunftsaufgabe. Man kann auch sagen: In der Vielfalt liegt die Zukunft.

Wir sind überzeugt: Nur wer von innen heraus Gender lebt, kann diesen Ansatz auch auf andere Bereiche wie die medizinische Versorgung übertragen. Deshalb möchte ich kurz auf unsere Unternehmensphilosophie eingehen. Von unseren über 19.000 Gesundexpertinnen und Gesundexperten sind ca. 62% weiblich und ca. 38% männlich. Diese Verteilung findet sich interessanterweise auch bei unseren Versicherten.

Die Bedürfnisse, Ansprüche und Blickwinkel von Männern und Frauen differieren dabei sehr stark. Gender sensibilisiert die Wahrnehmung im Kreis der Beschäftigten und ermöglicht, Begabungen zu erkennen und Fachkompetenzen, unterschiedliche Fähigkeiten, Lebenssituationen und Interessen von Männern und Frauen bewusster zu nutzen. Dies führt zu mehr Geschlechtergerechtigkeit, höherer Motivation, ausgeprägterer Loyalität und größerer Produktivität – und geringeren Fehlzeiten. Unternehmen wie die BARMER GEK haben somit viel davon zu "gendern". Denn schließlich entscheiden die Menschen ganz wesentlich mit über den Erfolg eines Unternehmens.

In der Personal- und Organisationsentwicklung, der Produktgestaltung, der Kommunikation und medizinischen Versorgung werden die Unterschiede berücksichtigt. Mit zentralen und dezentralen Programmen wie z.B. work-life-balance, flexiblen Arbeitszeitmodellen, Informationsveranstaltungen zu den Themen Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie

Vereinbarkeit von Beruf und Pflege geht die BARMER GEK auf die geschlechterspezifischen Eigenschaften und Bedürfnisse ein. Gender als Unternehmenswert zu verankern und aktiv zu fördern, trägt also mit dazu bei, dass wir als Kranken- und Pflegekasse erstklassige geschlechterspezifische Gesundheitsprodukte entwickeln, fördern und begleiten können.

Wenn wir über Gender sprechen, müssen wir verschiedene Aspekte beleuchten. Neben biologischen Unterschieden werden Frauen und Männer durch kulturelle und soziale Rollenzuschreibungen geprägt. Das war immer so und wird auch künftig so bleiben. Gender ist kein Frauenthema. Es betrifft Männer ebenso wie Frauen, Jungen und Mädchen, alt und jung in den verschiedenen Lebensphasen.
Es gibt selten typisch männliche oder typisch weibliche Erkrankungen. Sie treten gleichermaßen auf, jedoch z. T. mit anderen Symptomen.

Hier nur einige Beispiele:

Kardiologie:
der Herzinfarkt gilt immer noch als Männerkrankheit, aber 45% der Infarkttoten sind weiblich, weil Frauen oft andere Symptome haben, die Notaufnahme dadurch später erreichen als Männer und nicht dieselbe Therapie erhalten

Arzneimittel:
Frauen werden nach wie vor viele Medikamente verordnet, deren Dosierung sich auf einen durchschnittlichen 75-Kilo Mann bezieht. Wir wissen heute jedoch, dass der Stoffwechsel von Frauen und Männern ganz unterschiedlich arbeitet. Verwundert es dann nicht, dass bislang weder auf Beipackzetteln noch in der ärztlichen Fortbildung geschlechterspezifische Hinweise auftauchen?
Depressionen:
werden bei Frauen häufiger diagnostiziert, weil Ärzte bei Frauen eher seelische Erkrankungen vermuten als bei Männern
äußern sich bei Frauen durch Angst und innere Spannung, Männer reagieren aggressiv und mit Wutanfällen und versuchen, die Spannung mit Alkohol abzubauen
Krebserkrankungen:
der Knoten in der Männerbrust wird später entdeckt - mit der Folge geringerer Überlebenschancen der Betroffenen


Blinddarmentzündung:
Frauen werden mehr als doppelt so oft wie Männer laparoskopisch, also schonender per Knopflochchirurgie, behandelt als Männer (Mehrzahl per Bauchschnitt)
Wechseljahre:
werden zum Teil immer noch als Krankheit behandelt (bis vor kurzem erhielten Frauen noch regelmäßig Hormone).
Rauchen:
wirkt sich bei Frauen viel schädlicher aus, wenn sie die Antibabypille nehmen
bei der gleichen Menge Zigaretten pro Tag haben Frauen ein um 50% höheres Risiko an Lungenkrebs zu erkranken

Diese Liste lässt sich noch weiter fortsetzen.

All diese Erkenntnisse nützen jedoch nichts, wenn man sie nicht in entsprechende Konzepte gießt, gesellschaftliche Dimensionen aufzeigt bzw. verschiedene Facetten beleuchtet.

Werfen wir einen Blick auf die Gesundheits- und Patienteninformationen. Mit der Veröffentlichung von geschlechterdifferenzierten Medien setzen wir auf Aufklärung und Beratung und geben Hilfen zur selbstbestimmten Entscheidungsfindung. Den unterschiedlichen Bedürfnissen unserer Versicherten tragen durch eine gezielte Ansprache sowie eine inhaltliche und gestalterische Differenzierung Rechnung.

So richtet sich z.B. unsere Broschüre "Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs; Informationen und Erfahrungen - Eine Entscheidungshilfe" allgemein an junge Frauen und insbesondere an Mütter von jungen Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren, die vor einer Entscheidung zur HPV-Impfung stehen. Eine wertvolle Hilfe stellt das Medium auch für nach dem 01.04.1987 geborene Frauen dar; sie müssen sich im Alter von 20 – 22 Jahren einmalig von ihrer Frauenärztin bzw. ihrem Frauenarzt über die Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs beraten lassen und können dann selbst entscheiden, ob sie einen PAP-Abstrich durchführen lassen.

Für Jungen und Mädchen in der Pubertät haben wir die Broschüre "Was dich bewegt, über die körperliche Entwicklung" geschaffen. Ein Informationsmedium speziell für Kinder gibt es zum Thema Asthma. In der Broschüre "Für Kinder kochen" erhalten eilige Eltern Tipps, wie man ohne große Kochkenntnisse, mit einfachen Zutaten und ohne lange Vorbereitungszeit schnell ein leckeres Essen für Kinder zaubern kann. Und für die 17 - 21 Jährigen wurde die Broschüre "Sechs Kapitel zum Thema Sex" über Liebe, Lust und Leid des

Erwachsenwerdens entwickelt. Unser Gesundheitstelefon Teledoktor ist rund um die Uhr an 7 Tagen die Woche mit medizinischem Fachpersonal besetzt und beantwortet Fragen rund um Kinder- und Jugend- sowie Frauen- und Männergesundheit.

Unsere Broschüren "Von Herzen - Geschlechtsunterschiede bei Herzkrankheiten" und "Depressionen - Erkennen, Verstehen, Behandeln" gehören ebenfalls zu den besonders gendersensiblen Informationsangeboten der BARMER GEK. Dies betrifft ebenfalls die Behandlungen koronarer Herzerkrankungen (Besser-Leben-Programm der BARMER GEK "KHK"), Depressionen und chronischen Schmerzen. Der alljährliche Gesundheitsreport der BARMER GEK beschäftigte sich in 2009 mit dem Schwerpunktthema Psychische Gesundheit, wobei die Geschlechterunterschiede einen Teil der Betrachtungen einnahmen.

Qualitätsgeprüfte Präventionsangebote zur Förderung von gesundheitsbewusstem Verhalten in den Bereichen Bewegung, Ernährung, Stressbewältigung/Entspannung und Sucht berücksichtigen die Genderperspektive. Abgerundet wird das Angebot durch geschlechterspezifische Seminare wie z.B. "Naturheilverfahren in den Wechseljahren" - ein sechstägiges Kompaktseminar für Frauen in den Wechseljahren - oder "Kardio fit" ein dreitägiges Kompaktseminar zum Gesundheitsmanagement für Männer. Weitere Angebote sind z.B. "1000 mutige Männer für Mönchengladbach" - ein Modellprojekt zur Steigerung der Inanspruchnahme der Vorsorgekoloskopie bei Männern ab 55 Jahren, welches mit dem Darmkrebs-Kommunikationspreis 2010 der Deutschen Krebsgesellschaft e.V. und der Stiftung LebensBlicke ausgezeichnet wurde.

Auch ein geschlechtersensibles Betriebliches Gesundheitsmanagement berücksichtigt die besonderen Belange von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gleichermaßen - sowohl was die Analyse der gesundheitlichen Belastungen aber auch die daraus resultierenden Interventionen betrifft. Es trägt den unterschiedlichen Bedürfnissen, Interessen und Realitäten von Frauen und Männern in den verschiedenen Alters- und Berufsgruppen Rechnung. Ziel muss es sein, die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit und damit auch die Motivation nachhaltig zu steigern.
Wie gut gelingt es Arbeitgebern, diesen Ansprüchen Rechnung zu tragen? In Zeiten zunehmenden Fachkräftemangels entscheidet diese Frage mit über die Attraktivität von Unternehmen als Arbeitgeber und deren Wettbewerbsfähigkeit. Als Krankenkasse unterstützen wir hierbei aktiv.



Geschlechterspezifische Aspekte spielen bei der Planung und Ausgestaltung einer bedarfsgerechten Gesundheitsversorgung eine große Rolle. Die BARMER GEK
berücksichtigt aus diesem Grund die unterschiedlichen Gesundheitsbedürfnisse von Männern und Frauen auch bei der Versorgungsforschung. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen in konkrete Angebote einfließen.

Wir arbeiten eng mit externen Partnern zusammen, um die Geschlechterperspektive in der medizinischen Versorgung zu erweitern. Dabei engagieren wir uns z.B. im Bereich "Vereinbarkeit von Beruf und Familie", begleiteten Modellprojekte zum Thema Frühgeburtenvermeidung, unterstützen wissenschaftliche Studien beispielsweise zum Thema "Geschlechterspezifische Unterschiede in der Arzneimittelversorgung" und haben das vom Land NRW und der EU geförderte Projekt "Unternehmensseitige Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege" des Zentrums Frau in Beruf und Technik der Stadt Castrop-Rauxel unterstützt.

Sie fragen sich jetzt vielleicht, was Pflege mit Gender zu tun hat?

Die strukturellen und demografischen Veränderungen in unserer Gesellschaft stellen die Bevölkerung vor neue Herausforderungen. Großfamilien lösen sich auf und der Trend orientiert sich weg von der klassischen Familienstruktur mit einem Hauptverdiener hin zu einem Haushalt in dem beide Lebenspartner berufstätig sind. Hinzu kommt die Problematik der stetig wachsenden Anzahl von Alleinstehenden. Der verbesserten medizinischen Versorgung ist es zudem zu verdanken, dass die Lebenserwartung kontinuierlich ansteigt. Bereits heute werden von rund 2,1 Mio. Pflegebedürftigen 1,4 Mio. - also mehr als 50 Prozent - ambulant betreut. Jüngste Ermittlungen gehen davon aus, dass der Anteil an Pflegebedürftigen in den nächsten 20 Jahren um 50 Prozent steigen und in weiteren 20 Jahren sich nahezu verdoppeln wird.
Auch wenn immer mehr Männer Angehörige pflegen, sind Frauen nach wie vor Hauptpflegepersonen. Sie haben damit ein unmittelbar höheres Risiko, aufgrund der physischen und psychischen Doppelbelastung von Pflege und Beruf selber krank und pflegebedürftig zu werden. Unternehmen aber auch Kranken-/Pflegekassen müssen hierauf reagieren.
Zudem stellen Frauen aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung auch im Alter die größere Gruppe der Alleinlebenden dar. Die Lebensqualität im Alter hängt stark davon ab, ob und wie lange man selbstbestimmt in der eigenen häuslichen Umgebung leben kann. Frauen und Männer haben hier ganz unterschiedliche Bedürfnisse.

Sehr intensiv verfolgen wir die Entwicklungen im Bereich des "Ambient Assisted Living". Denn zwischen Gendermedizin und AAL gibt es außerhalb der Telemedizin Schnittstellen. Bei AAL geht es um altersgerechte Assistenzsysteme, die es z.B. erlauben, Menschen mit technischen Hilfen so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung leben zu lassen, und zwar selbstbestimmt, autonom und auch mobil. Diese Systeme können zudem die Pflege erleichtern und schaffen somit Freiräume, damit Zeit für den so wesentlichen zwischenmenschlichen Austausch bleibt.
Unterstützungs- bzw. Assistenzsysteme werden vielfach für die vermeintlich technikaffineren Männer konzipiert. Ein Blick auf die demografische Entwicklung zeigt uns jedoch, dass das Kundenpotential vorwiegend weiblich ist. Nicht nur mit Blick auf die Unterstützungs- bzw. Hilfebedürftigen - auch die Pflegepersonen sind – wie erwähnt - zumeist immer noch Frauen.

Wir sehen, Gender und Gendermedizin haben viele Facetten. Unser Ziel ist eine optimale Versorgung durch engere Vernetzung von Prävention und Rehabilitation, Diagnostik und Therapie unter Nutzung der Erkenntnisse aus der noch jungen alters- und geschlechtersensiblen Forschung. Auch können wir auf Erfahrungswissen zurück greifen. Genderaspekte müssen Berücksichtigung finden, um die Unter-, Über- oder Fehlversorgung abzubauen. Individualisierte, ganzheitliche Medizin verspricht bessere Behandlungserfolge und damit einen effektiveren Ressourceneinsatz. Dass wir auf einem guten Weg sind, Versorgung neu zu denken und in entsprechende Versorgungskonzepte zu gießen, zeigt die heutige Veranstaltung.

Als größte Kranken- und Pflegekasse werden wir uns weiterhin aktiv in den Prozess einbringen. In persönlichen Gesprächen, durch Veröffentlichungen in unseren unternehmenseigenen Medien wie z.B. der Gesundheit konkret oder den BARMER GEK Gesundheitsreporten, mit genderspezifischen Broschüren und Flyern sowie auf unserer Homepage www.barmer-gek.de erreichen wir eine breite Öffentlichkeit und tragen zu einer ständigen Erweiterung des Verständnisses für eine geschlechterspezifische Gesundheitsversorgung bei.

Daher begrüßen wir den Netzwerkgedanken, der mit der heutigen Veranstaltung verfolgt werden soll und freuen uns auf den kommenden Austausch.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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