FACHTAGUNG 22. September 2016 in Potsdam

Geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung im Land Brandenburg - Ist-Stand-Analyse und Perspektiven

Eröffnung mit Staatssekretärin Almuth Hartwig-Tiedt
35 Fachleute aus Medizin, Verbänden, Politik und Gesundheitswirtschaft waren gekommen
Am Mikrofon Prof. Dr. Ulrich Schwantes, Ärztekammer; rechts die Moderatorinnen Annegret Hofmann (stehend), Sabine Oertelt-Prigione und Dr. Gesine Dörr
Zahnärztin Dr. Kerstin Finger, Templin, daneben Sabine Hiekel, Gleichstellungsbeauftragte in Cottbus, und Anke Sieber, Dreist e.V. Eberswalde; vorne rechts Dr. Ute Kilger, Sphingotec Hennigsdorf
Am Mikrofon: Chefarzt PD Dr. Harun Badakhshi, Radioonkologie, Potsdam, rechts dahinter Dr. Natascha Hess, Kardiologin, Berlin
Plenum mit Co-Moderatorin Sabine Oertelt-Prigione (links)
Die Gleichstellungsbeauftragte Monika von der Lippe berichtet
Pausengespräch u.a mit Prof. Dr. Ulrich Schwantes und Dr. Kerstin Finger
Mit dem Gesicht zur Kamera: Dr. Eva Erler, KSG Brandenburg, Dr. Katja Böhler und Dr. Sabine Gebhardt (Gesundheitscampus), v. l. n. r.
Vorne v. li. Monika von der Lippe, Dr. Ute Kilger und Dr. Ulrich Eggens
Wie geht's weiter? Ergebnisse am Flipchart
Zwei einführende Vorträge und mehr als vier Stunden Diskussion unter den Augen gekrönter Häupter Brandenburgs – zu einem Thema, das diesen Herren sicher sehr abwegig vorgekommen wäre: Im Konferenzsaal des Hauses der brandenburgisch-preußischen Geschichte tauschten sich am 22. September die Teilnehmer/innen der Fachtagung zu geschlechtergerechter Gesundheitsversorgung im Land Brandenburg“ aus. So vielfältig wie die Arbeitsbereiche, aus denen die Frauen und Männer kamen, so vielfältig auch die Aspekte, die sie mit Blick auf das gemeinsame Thema anrissen. Die große Überschrift: Können wir mit einem Regionalen Netzwerk eine bessere Gesundheitsversorgung für die Menschen der Region bewirken, was gehört dazu, was ist zu tun? Wie kommen Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet rascher in die Versorgungspraxis? Wie gelingt es, den bio-psycho-sozialen Ansatz, den nicht zuletzt die Gendermedizin in die Gesundheitsdiskussion hineinträgt, umzusetzen – von der Gesundheitsförderung und -information über Diagnostik und Therapie bis zu Reha, Pflege und Versorgungsforschung?

Gendermedizin und personalisierte Medizin – Wo wir stehen und wo wir hinwollen

PD Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione, Charité, Berlin (Abstract zum Vortrag):
Die Gendermedizin stellt einen innovativen Ansatz dar, der über das rein biologische Verständnis der personalisierten Medizin hinausreicht und soziale, ökonomische und psychologische Aspekte miteinbezieht. Die Gesundheit und Krankheit von Menschen lässt sich nicht adäquat durch ein einziges Modell abbilden und Gender und Diversität müssen Teil einer personenzentrierten Behandlung werden.

Nach einer kurzen Begriffsklärung werden die Meilensteine der Entwicklung der Gendermedizin über die letzten 20 Jahre dargestellt um die Entstehungsgeschichte des Fachbereiches aufzuzeigen. Bereits diese Darstellung offenbart die Notwendigkeit der Einbindung eines breiten Netzwerkes von Interessensträger/innen und auch die Verzahnung der gendermedizinischen Meilensteine mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen.

Daraufhin werden kurz einige Erkenntnisse der Gendermedizin in verschiedenen Bereichen der medizinischen Versorgung dargestellt: Wo unterscheiden sich Männer und Frauen in der Symptomatik, der Mortalität, den Risikofaktoren und der Therapie. Werden diese Erkenntnisse in der Praxis berücksichtigt?
Im finalen Teil des Vortrages werden die Notwendigkeit eines systemischen Ansatzes und die Erfahrungswerte aus zehn Jahren Gendermedizin in Deutschland nochmals genauer betrachtet. Welche Unterstützung von Seiten der Stakeholder ist notwendig, welche Bausteine tragen zur Implementierung bei, was können einzelne Interessensträger/innen leisten? Und welche Herausforderungen muss man dabei berücksichtigen?

Weitere Informationen: PD Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione, Sabine.Oertelt-Prigione{AT}charite.de

Bericht zur Ist-Stand-Analyse Geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung im Land Brandenburg

Bei einer Onlinebefragung Ende des vergangenen Jahres hatte sich die Mehrzahl der Teilnehmer/innen – aus unmittelbaren und mittelbaren Gesundheitsbereichen – für ein Netzwerk zur geschlechtergerechten Gesundheitsversorgung im Land Brandenburg ausgesprochen. Bericht von Annegret Hofmann, Sprecherin des „Netzwerks Gendermedizin & Öffentlichkeit“, Bernau/Berlin, das die Ist-Stand-Analyse zur geschlechtergerechten Gesundheitsversorgung im Land Brandenburg durchführte.

Aus der Diskussion im Rahmen der Fachtagung

Staatssekretärin Almuth Hartwig-Tiedt, Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie:
Gerade in der Vielfalt der hier vorhandenen Erfahrungen liegen viele Schnittstellen für dieses noch nicht so bearbeitete Thema einer geschlechtergerechten Gesundheitsversorgung. Auch das neu aufgelegte Gleichstellungspolitische Rahmenprogramm des Landes Brandenburg bietet entsprechende Ansätze. Vorhandene Strukturen können genutzt werden, neue Kooperationen sollten entstehen. Wir haben im Land ein großes Potenzial – und Netzwerke leben von den Beteiligten und Partnern. Das Ministerium kann ein Partner sein.
Zur Presseinformation MASGF

Prof. Dr. Ulrich Schwantes, Allgemeinmediziner, Hochschullehrer, im Vorstand der Landesärztekammer Brandenburg und Vorsitzender des Hausärzteverbandes des Bundeslandes:
Wir reden hier von geschlechtergerechter Gesundheitsversorgung, das bedeutet auch patientenorientierte Medizin und bedarfsgerechte Versorgung. Hierzu kann eine viele Professionen umfassende Initiative beitragen, die bei der Prävention beginnt und über Diagnostik und Therapie bis hin zu Reha und Pflege reicht. Die Institutionen und Verbände müssen dazu in die Pflicht genommen werden. Informationen und neue Erkenntnisse aus der Gendermedizin gehören in die Aus-, Fort- und Weiterbildung, als eine Querschnittsmaterie; nicht zuletzt für die Hausärzte mit ihrer hohen Verantwortung für die Grundversorgung. Ich kann mir auch vorstellen, dass solche Erkenntnisse z. B. bei Hausärztetagen komprimiert vermittelt werden können.

Dr. med. Natascha Hess, niedergelassene Kardiologin in Berlin und Werder, Gendermedizinerin:
Ich wünsche mir, dass die Ärztekammern den Erwerb der Zusatzbezeichnung Gendermediziner in ihr Weiterbildungsangebot aufnehmen und dafür gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin die Voraussetzungen schaffen. Überhaupt ist es wichtig, gendermedizinische Kenntnisse in die Breite zu tragen. In Bezug auf den Herzinfarkt haben wir schon so viele Fakten zur Unterschiedlichkeit bei Männern und Frauen, die aber dennoch nicht Allgemeingut sind. Ich denke als Kardiologin dabei nicht nur an die Hausärzte, sondern z. B. auch an Rettungsassistenten und anderes medizinisches Personal. Brandenburg liegt bei den Herzinfarkten mit an der traurigen Spitze! Hier ist ein großer Nachholebedarf.

Dr. med. Gesine Dörr, Kardiologin, Chefärztin, Potsdam:
Intensive Forschungen, belastbare Studienergebnisse aus der Grundlagenforschung sind für die Gendermedizin notwendig, keine Frage. Und hier gibt es auch noch viel zu tun. Als Chefärztin in einer Akutklinik mit langjährigen Erfahrungen in der Rehabilitation möchte ich, dass das, was wir schon wissen, rasch in die Versorgung kommt, zum Nutzen der Patientinnen und Patienten. Dafür sind neue Partnerschaften und Aufgabenstellungen notwendig, zum Beispiel in der Reha. Gemischte Gruppen oder nach Geschlechtern getrennte, was bringt einen langfristigen Reha-Erfolg? Welche psychischen Unterschiede spielen eine Rolle? Ich könnte mir Studien und Modelle gut vorstellen, die Rentenversicherung, Krankenversicherung und Reha-Kliniken gemeinsam entwickeln und realisieren. Ansätze dafür gibt es bereits! Ein Netzwerk könnte die besten Bedingungen dafür schaffen.

Dr. Ulrich Eggens, Abt. Rehabilitation und Gesundheitsförderung, Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg:
Das Thema der Geschlechterspezifik beschäftigt uns – zum Beispiel, weil Frauen seltener Reha-Anträge stellen, ihre Mehrfachbelastung durch Familie und Beruf hält sie oft davon ab. Wir wissen, dass Frauen zwar in der Prävention besser aufgestellt sind, von einer Reha profitieren die Männer aber mehr. Wir sollten das gemeinsam in Angriff nehmen.

Anke Grubitz, Leiterin Vertragsbeziehungen Berlin-Brandenburg, DAK:
Vergleichbare Diskrepanzen offenbarte auch der DAK Gesundheitsreport 2016 auf, der bundesweit, aber auch in Bezug auf Brandenburg Zahlen der Krankschreibungen bei Frauen und Männern vorlegte. Frauen sind häufiger krankgeschrieben – psychische Belastungen, Stress –, Männer dann aber oft länger, da sie seltener und sicher oft zu spät zum Arzt gehen. Wir brauchen eine geschlechterorientierte Versorgung, z. B. auch bei der betrieblichen Gesundheitsförderung, die DAK ist offen für Partner.
(s. a. https://www.dak.de/dak/download/Vollstaendiger_Gesundheitsreport_Brandenburg_2016-1807734.pdf)

Dr. med. Eva Erler, Internistin, Betriebsärztlicher Dienst der Landesverwaltung, Potsdam:
Die betriebliche Gesundheitsförderung ist, wie viele weitere Aspekte im Vorfeld von Erkrankungen, ein wichtiger Gesichtspunkt, bei dem Geschlechterspezifik und unterschiedliches Gesundheitsbewusstsein stärker berücksichtig werden müssen. Wir haben in Brandenburg diesbezüglich viele Betätigungsfelder: Von der hohen Zahl weiblicher Beschäftigter z. B. im Gesundheitswesen über kleine und mittlere Betriebe bis hin zu den Menschen auf dem Lande.

Anja-Kristin Faber, Geschäftsführerin, Brandenburger Landfrauenverband, Teltow:

Der ländliche Raum mit seinen speziellen Bedingungen wird oft vergessen, auch bei dem, was in Sachen Gesundheitsversorgung notwendig ist. Ich rede nicht vom allseits bekannten Ärztemangel, sondern von Mobilität und Erreichbarkeit, im ländlichen Brandenburg oft ein Problem. Frauen hören früher auf Auto zu fahren, der öffentliche Nahverkehr ist ausgedünnt. Wie zur Reha, zu Sportgruppen, zu Präventionsterminen kommen? Auch das gehört zur geschlechtergerechten Gesundheitsversorgung. Wir müssen Gesundheitsthemen nach „Kleinkleckersdorf“ bringen, mit vielen Partnern im Netzwerk kann das noch besser gelingen.

Marlies Meier, DAK-Regionalleiterin, Cottbus:
Stichwort Regionale Spezifika beachten: Der DAK-Gesundheitsreport, aufgeschlüsselt auf die Stadt Cottbus, zeigt, dass wir eine verhältnismäßig hohe Zunahme an psychischen Erkrankungen haben, dass bei Frauen zunehmend Alkohol ins Spiel kommt. Mein Schwerpunkt heißt deshalb – lokale und regionale Vernetzungen anstiften und fördern, vor Ort Kräfte bündeln mit den Potenzen, Informationen und Partnern eines umfassenden Netzwerks.

Dr. Ute Kilger, Chief Marketing Officer, Sphingotec Hennigsdorf:
Biotech-Unternehmen wie das unsrige stellen sehr aussagefähige Biomarker zur Verfügung, die neue Möglichkeiten sowohl in der Akutmedizin als auch in der Prävention eröffnen, nicht zuletzt für eine geschlechtsspezifische Medizin. So haben wir in medizinischen Fachkreisen große Anerkennung für unsere Risikomarker in Bezug auf Brustkrebs und Herzkreislauf-Erkrankungen speziell für Frauen erhalten. Wir wollen natürlich, dass dies schnell in der Versorgung implementiert wird! Kleine Biotech-Unternehmen brauchen dazu Partner und Vernetzungen, damit der Nutzen umfassend erkannt wird, damit es bis zur Anwendung nicht so lang dauert. Und wir brauchen die Fragestellungen aus dem Gesundheitssystem. Wir brauchen solche Netzwerke!

Dr. Anja Bargfrede, Geschäftsführerin der Landesarbeitsgemeinschaft Onkologische Versorgung (LAGO), Potsdam:
Wir vernetzen alle in der onkologischen Versorgung Tätigen in Brandenburg, das schließt auch im Moment schon die Landfrauen ein. In der Kampagne Brandenburg gegen Darmkrebs haben wir verschiedene geschlechterunterschiedliche Formen der Ansprache gewählt. Um die Männer zu erreichen, sind wir in Baumärkte gegangen, mit Erfolg. Bei den Vorsorgeuntersuchungen haben sich Männer und Frauen in der Beteiligung angenähert. Wir können Erfahrungen weitergeben und wollen gern andere nutzen. Wir arbeiten übrigens mit viel epidemiologischem, soziologischem Datenmaterial, das aus der gendermedizinischer Sicht oft fehlt. Hier sollte ein engerer Austausch erfolgen.

PD Dr. med. Harun Badakhshi, Chefarzt, Klinikum Ernst von Bergmann, Potsdam:
Was partiell schon gut funktioniert, sind Kooperationen, die an einem gemeinsamen Thema festgemacht sind. So arbeiten wir Onkologen schon heute sehr gut in fachlicher Hinsicht mit der LAGO zusammen. Nichtsdestotrotz: Gerade in der Onkologie sind die Kenntnisse über biologisch determinierte Unterschiede bei den einzelnen Krebserkrankungen sehr rudimentär, abgesehen von geschlechtstypischen wie Brust- oder Prostatakrebs. Und es gibt eigentlich keine integrative Onkologie, die die Behandlung der Patient/innen unter ganzheitlichen Gesichtspunkten betrachtet. Gendermedizin, der bio-psycho-soziale Ansatz und Zusammenwirken von verschiedenen Partnern, ist ein Weg dahin.

Ute Sadowski, Koordinierungsstelle Gesundheitliche Chancengleichheit, Gesundheit Berlin-Brandenburg, Potsdam:
Unser Fokus liegt auf einer bedarfsgerechten Gesundheitsförderung sozial benachteiligter Menschen, junger und älterer in gleichem Maße. Solche Konzepte müssen bei den und mit den Betroffenen entstehen, um schließlich auch zu greifen. Und: Auch hier arbeiten wir mit tollen Brandenburger Gesundheitsdaten, das muss viel mehr in die geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung einfließen. Ein Beispiel aus unserer Praxis: Jungen tragen ein viel höheres gesundheitliches Risiko als Mädchen!

Sabine Hiekel, Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Cottbus:
Bedarfsgerechte und niederschwellige Angebote bei Gesundheitsinformation, Gesundheitsförderung für beide Geschlechter – das betrifft ganz direkt auch die Arbeit der Gleichstellungsbeauftragten vor Ort, in den Kommunen. In Cottbus hatten wir dazu schon erfolgversprechende Anläufe, leider oft belächelt. Gesundheit gehört zur Lebenszufriedenheit der Menschen in einer Kommune, deshalb ist ein neuer Ansatz mit Partnern notwendig – im landesweiten Netzwerk, aber auch in der Stadt selbst.

Monika von der Lippe, Landesgleichstellungsbeauftragte:
Die geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung muss auch Flüchtlinge, Frauen, Kinder, Männer, einbeziehen. Wir haben in den letzten Monaten viel auf den Weg gebracht: Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede spielen bei der gesundheitlichen Versorgung immer noch eine große Rolle, hier brauchen wir Unterstützung von vielen Seiten. Gut, dass sich z. B. jetzt auch Selbsthilfegruppen für die Flüchtlinge und ihre Probleme öffnen. Das Netzwerk mit seinen Kompetenzen kann enorm helfen.

Dr. med. Kerstin Finger, Zahnärztin, Templin:
Der breite Ansatz von Gendermedizin und damit einer geschlechtergerechten Gesundheitsversorgung in unserem Bundesland bestärkt meine Auffassung, dass wir eine partizipative Gesundheitsforschung brauchen, damit alle Menschen von unseren auch wissenschaftlichen Fortschritten profitieren. Das Netzwerk muss solche Bestrebungen fordern und fördern.