Gerade in der Vielfalt der hier vorhandenen Erfahrungen liegen viele Schnittstellen für dieses noch nicht so bearbeitete Thema einer geschlechtergerechten Gesundheitsversorgung. Auch das neu aufgelegte Gleichstellungspolitische Rahmenprogramm des Landes Brandenburg bietet entsprechende Ansätze. Vorhandene Strukturen können genutzt werden, neue Kooperationen sollten entstehen. Wir haben im Land ein großes Potenzial – und Netzwerke leben von den Beteiligten und Partnern. Das Ministerium kann ein Partner sein.
Zur Presseinformation MASGF
Prof. Dr. Ulrich Schwantes, Allgemeinmediziner, Hochschullehrer, im Vorstand der Landesärztekammer Brandenburg und Vorsitzender des Hausärzteverbandes des Bundeslandes:
Wir reden hier von geschlechtergerechter Gesundheitsversorgung, das bedeutet auch patientenorientierte Medizin und bedarfsgerechte Versorgung. Hierzu kann eine viele Professionen umfassende Initiative beitragen, die bei der Prävention beginnt und über Diagnostik und Therapie bis hin zu Reha und Pflege reicht. Die Institutionen und Verbände müssen dazu in die Pflicht genommen werden. Informationen und neue Erkenntnisse aus der Gendermedizin gehören in die Aus-, Fort- und Weiterbildung, als eine Querschnittsmaterie; nicht zuletzt für die Hausärzte mit ihrer hohen Verantwortung für die Grundversorgung. Ich kann mir auch vorstellen, dass solche Erkenntnisse z. B. bei Hausärztetagen komprimiert vermittelt werden können.
Dr. med. Natascha Hess, niedergelassene Kardiologin in Berlin und Werder, Gendermedizinerin:
Ich wünsche mir, dass die Ärztekammern den Erwerb der Zusatzbezeichnung Gendermediziner in ihr Weiterbildungsangebot aufnehmen und dafür gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin die Voraussetzungen schaffen. Überhaupt ist es wichtig, gendermedizinische Kenntnisse in die Breite zu tragen. In Bezug auf den Herzinfarkt haben wir schon so viele Fakten zur Unterschiedlichkeit bei Männern und Frauen, die aber dennoch nicht Allgemeingut sind. Ich denke als Kardiologin dabei nicht nur an die Hausärzte, sondern z. B. auch an Rettungsassistenten und anderes medizinisches Personal. Brandenburg liegt bei den Herzinfarkten mit an der traurigen Spitze! Hier ist ein großer Nachholebedarf.
Dr. med. Gesine Dörr, Kardiologin, Chefärztin, Potsdam:
Intensive Forschungen, belastbare Studienergebnisse aus der Grundlagenforschung sind für die Gendermedizin notwendig, keine Frage. Und hier gibt es auch noch viel zu tun. Als Chefärztin in einer Akutklinik mit langjährigen Erfahrungen in der Rehabilitation möchte ich, dass das, was wir schon wissen, rasch in die Versorgung kommt, zum Nutzen der Patientinnen und Patienten. Dafür sind neue Partnerschaften und Aufgabenstellungen notwendig, zum Beispiel in der Reha. Gemischte Gruppen oder nach Geschlechtern getrennte, was bringt einen langfristigen Reha-Erfolg? Welche psychischen Unterschiede spielen eine Rolle? Ich könnte mir Studien und Modelle gut vorstellen, die Rentenversicherung, Krankenversicherung und Reha-Kliniken gemeinsam entwickeln und realisieren. Ansätze dafür gibt es bereits! Ein Netzwerk könnte die besten Bedingungen dafür schaffen.
Dr. Ulrich Eggens, Abt. Rehabilitation und Gesundheitsförderung, Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg:
Das Thema der Geschlechterspezifik beschäftigt uns – zum Beispiel, weil Frauen seltener Reha-Anträge stellen, ihre Mehrfachbelastung durch Familie und Beruf hält sie oft davon ab. Wir wissen, dass Frauen zwar in der Prävention besser aufgestellt sind, von einer Reha profitieren die Männer aber mehr. Wir sollten das gemeinsam in Angriff nehmen.
Anke Grubitz, Leiterin Vertragsbeziehungen Berlin-Brandenburg, DAK:
Vergleichbare Diskrepanzen offenbarte auch der DAK Gesundheitsreport 2016 auf, der bundesweit, aber auch in Bezug auf Brandenburg Zahlen der Krankschreibungen bei Frauen und Männern vorlegte. Frauen sind häufiger krankgeschrieben – psychische Belastungen, Stress –, Männer dann aber oft länger, da sie seltener und sicher oft zu spät zum Arzt gehen. Wir brauchen eine geschlechterorientierte Versorgung, z. B. auch bei der betrieblichen Gesundheitsförderung, die DAK ist offen für Partner.
(s. a. https://www.dak.de/dak/download/Vollstaendiger_Gesundheitsreport_Brandenburg_2016-1807734.pdf)
Dr. med. Eva Erler, Internistin, Betriebsärztlicher Dienst der Landesverwaltung, Potsdam:
Die betriebliche Gesundheitsförderung ist, wie viele weitere Aspekte im Vorfeld von Erkrankungen, ein wichtiger Gesichtspunkt, bei dem Geschlechterspezifik und unterschiedliches Gesundheitsbewusstsein stärker berücksichtig werden müssen. Wir haben in Brandenburg diesbezüglich viele Betätigungsfelder: Von der hohen Zahl weiblicher Beschäftigter z. B. im Gesundheitswesen über kleine und mittlere Betriebe bis hin zu den Menschen auf dem Lande.
Anja-Kristin Faber, Geschäftsführerin, Brandenburger Landfrauenverband, Teltow:
Der ländliche Raum mit seinen speziellen Bedingungen wird oft vergessen, auch bei dem, was in Sachen Gesundheitsversorgung notwendig ist. Ich rede nicht vom allseits bekannten Ärztemangel, sondern von Mobilität und Erreichbarkeit, im ländlichen Brandenburg oft ein Problem. Frauen hören früher auf Auto zu fahren, der öffentliche Nahverkehr ist ausgedünnt. Wie zur Reha, zu Sportgruppen, zu Präventionsterminen kommen? Auch das gehört zur geschlechtergerechten Gesundheitsversorgung. Wir müssen Gesundheitsthemen nach „Kleinkleckersdorf“ bringen, mit vielen Partnern im Netzwerk kann das noch besser gelingen.
Marlies Meier, DAK-Regionalleiterin, Cottbus:
Stichwort Regionale Spezifika beachten: Der DAK-Gesundheitsreport, aufgeschlüsselt auf die Stadt Cottbus, zeigt, dass wir eine verhältnismäßig hohe Zunahme an psychischen Erkrankungen haben, dass bei Frauen zunehmend Alkohol ins Spiel kommt. Mein Schwerpunkt heißt deshalb – lokale und regionale Vernetzungen anstiften und fördern, vor Ort Kräfte bündeln mit den Potenzen, Informationen und Partnern eines umfassenden Netzwerks.
Dr. Ute Kilger, Chief Marketing Officer, Sphingotec Hennigsdorf:
Biotech-Unternehmen wie das unsrige stellen sehr aussagefähige Biomarker zur Verfügung, die neue Möglichkeiten sowohl in der Akutmedizin als auch in der Prävention eröffnen, nicht zuletzt für eine geschlechtsspezifische Medizin. So haben wir in medizinischen Fachkreisen große Anerkennung für unsere Risikomarker in Bezug auf Brustkrebs und Herzkreislauf-Erkrankungen speziell für Frauen erhalten. Wir wollen natürlich, dass dies schnell in der Versorgung implementiert wird! Kleine Biotech-Unternehmen brauchen dazu Partner und Vernetzungen, damit der Nutzen umfassend erkannt wird, damit es bis zur Anwendung nicht so lang dauert. Und wir brauchen die Fragestellungen aus dem Gesundheitssystem. Wir brauchen solche Netzwerke!
Dr. Anja Bargfrede, Geschäftsführerin der Landesarbeitsgemeinschaft Onkologische Versorgung (LAGO), Potsdam:
Wir vernetzen alle in der onkologischen Versorgung Tätigen in Brandenburg, das schließt auch im Moment schon die Landfrauen ein. In der Kampagne Brandenburg gegen Darmkrebs haben wir verschiedene geschlechterunterschiedliche Formen der Ansprache gewählt. Um die Männer zu erreichen, sind wir in Baumärkte gegangen, mit Erfolg. Bei den Vorsorgeuntersuchungen haben sich Männer und Frauen in der Beteiligung angenähert. Wir können Erfahrungen weitergeben und wollen gern andere nutzen. Wir arbeiten übrigens mit viel epidemiologischem, soziologischem Datenmaterial, das aus der gendermedizinischer Sicht oft fehlt. Hier sollte ein engerer Austausch erfolgen.
PD Dr. med. Harun Badakhshi, Chefarzt, Klinikum Ernst von Bergmann, Potsdam:
Was partiell schon gut funktioniert, sind Kooperationen, die an einem gemeinsamen Thema festgemacht sind. So arbeiten wir Onkologen schon heute sehr gut in fachlicher Hinsicht mit der LAGO zusammen. Nichtsdestotrotz: Gerade in der Onkologie sind die Kenntnisse über biologisch determinierte Unterschiede bei den einzelnen Krebserkrankungen sehr rudimentär, abgesehen von geschlechtstypischen wie Brust- oder Prostatakrebs. Und es gibt eigentlich keine integrative Onkologie, die die Behandlung der Patient/innen unter ganzheitlichen Gesichtspunkten betrachtet. Gendermedizin, der bio-psycho-soziale Ansatz und Zusammenwirken von verschiedenen Partnern, ist ein Weg dahin.
Ute Sadowski, Koordinierungsstelle Gesundheitliche Chancengleichheit, Gesundheit Berlin-Brandenburg, Potsdam:
Unser Fokus liegt auf einer bedarfsgerechten Gesundheitsförderung sozial benachteiligter Menschen, junger und älterer in gleichem Maße. Solche Konzepte müssen bei den und mit den Betroffenen entstehen, um schließlich auch zu greifen. Und: Auch hier arbeiten wir mit tollen Brandenburger Gesundheitsdaten, das muss viel mehr in die geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung einfließen. Ein Beispiel aus unserer Praxis: Jungen tragen ein viel höheres gesundheitliches Risiko als Mädchen!
Sabine Hiekel, Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Cottbus:
Bedarfsgerechte und niederschwellige Angebote bei Gesundheitsinformation, Gesundheitsförderung für beide Geschlechter – das betrifft ganz direkt auch die Arbeit der Gleichstellungsbeauftragten vor Ort, in den Kommunen. In Cottbus hatten wir dazu schon erfolgversprechende Anläufe, leider oft belächelt. Gesundheit gehört zur Lebenszufriedenheit der Menschen in einer Kommune, deshalb ist ein neuer Ansatz mit Partnern notwendig – im landesweiten Netzwerk, aber auch in der Stadt selbst.
Monika von der Lippe, Landesgleichstellungsbeauftragte:
Die geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung muss auch Flüchtlinge, Frauen, Kinder, Männer, einbeziehen. Wir haben in den letzten Monaten viel auf den Weg gebracht: Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede spielen bei der gesundheitlichen Versorgung immer noch eine große Rolle, hier brauchen wir Unterstützung von vielen Seiten. Gut, dass sich z. B. jetzt auch Selbsthilfegruppen für die Flüchtlinge und ihre Probleme öffnen. Das Netzwerk mit seinen Kompetenzen kann enorm helfen.
Dr. med. Kerstin Finger, Zahnärztin, Templin:
Der breite Ansatz von Gendermedizin und damit einer geschlechtergerechten Gesundheitsversorgung in unserem Bundesland bestärkt meine Auffassung, dass wir eine partizipative Gesundheitsforschung brauchen, damit alle Menschen von unseren auch wissenschaftlichen Fortschritten profitieren. Das Netzwerk muss solche Bestrebungen fordern und fördern.