Podiumsrunde Versorgungsforschung

Prof. Clarissa Kurscheid (CK), Köln; Prof. Ursula Härtel (UH), München;
Dr. Hendrik Okonek (HO), Bad Lippspringe
Moderation: Thomas Altgeld (TA), Hannover

TA: Versorgungsforschung wurde heute schon mehrmals als Notwendigkeit angemahnt. Wie sieht es damit in der kardiologischen Reha aus?

UH: Die kardiologische Reha-Forschung gibt es seit zehn Jahren, nach einer Ausschreibung vom Bundesforschungsministerium begann unsere Beobachtungsstudie zum
Erfolg von Reha nach Herzinfarkt bei Männern und Frauen.
Stand damals war: Frauen, vor allem die betroffenen älteren (Herzinfarkt rund 10 Jahre später als Männer), gehen seltener in die Reha, weil nicht erwerbstätig, deshalb keine Notwendigkeit der Wiedereingliederung in Erwerbstätigkeit, was ja eigentlicher Zweck der Reha war. Frauen und Männer gleichen Alters kamen seltener in Reha, Frauen sind zum Zeitpunkt der Reha schwächer, haben mehr Erkrankungen gleichzeitig. Daher waren Frauen in der Reha unterrepräsentiert und diese meistens an Männerbedürfnissen orientiert.
Wir stellten fest. Verhalten, psychologische Betreuung ist geschlechtsspezifisch anders zu betrachten.
Dann wurden die Gruppen studienmäßig getrennt. Gendern ist nicht teurer, sondern ein Organisationsproblem. Die Frauengruppen waren ein echter Erfolg, die Frauen profitieren davon, weil sie untereinander Probleme besser besprechen können. die Männer profitieren mehr von gemischtgeschlechtlichen Gruppen als Frauen – förderlich für das Verständnis für andere, Unterstützung.
Gender ist nicht Mainstream in der Versorgungsforschung. Die einschlägigen Gremien, Träger, Gutachter, sind in der Regel vollkommen männlich besetzt, winken Idee des Genderaspekts häufig noch ab – wenn die wenigen Frauen, und das ist leider die Realität, sich nicht für die Geschlechtsspezifik stark machen. Da hat sich noch nicht viel gebessert.
Genderprojekte haben es schwer, in den Titel zu kommen.

CK: Gendermedizin ist überhaupt nicht im Blick auch der Gesundheitsökonomie. Spezielle Medikation für Frauen oder Männer – individualisierte, patientenzentrierte Medizin wird häufig kritisiert, dass dies viel teurer wäre. Das Gegenteil ist der Fall.
Individuelle Medikation würde mittelfristig Geld sparen und zu mehr Erfolg führen.
Auch in der medizinischen Ausbildung von Ärzten wird dafür zu wenig getan - die Wahrnehmung würde anders!
Es wird schon breit geforscht, aber es geht nicht in die Praxis ein.

T.A. Frage an Dr. Okonek: Wann haben Sie in Ihrer Ausbildung von Gendermedizin gehört?

HO: In der Kardiologie wurde das schon berücksichtigt, gilt aber letztlich nicht für alle kardiologischen Bereiche. Unsere Klinik beschäftigt sich mit Thema Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Reha, weil der Impuls vom Geschäftsführer – durch seine Kontakte zu Prof. Härtel - kam. Wir planen jetzt auch in Bad Lippspringe eigene Frauengruppen in Bereichen Physiotherapie, Ernährung usw., aber auch ein Männerprogramm aufzulegen
Damit wollen wir den Erfolg der Reha verbessern, langfristiges Ziel ist gesundheitsförderndes Verhalten, mit hohem Nutzen für die Patient/innen.
Bei uns sind Frauen zu 30 Prozent, Männer zu 70 Prozent in der Reha.

Auf Anfrage Prof. I. Füsgen, Geriater:

CK: Entwickelt werden müssen auch Versorgungsmodelle, die für ältere Menschen passend sind. Das Land NRW hatte kürzlich eine Ausschreibung zu altersgerechter Versorgung, 177 Modelle gingen ein. Jetzt brauchen wir multifunktionelle, professionelle Umsetzungen, müssen Strukturen geschaffen werden und die Haltung und Einstellung derer, die im Gesundheitswesen arbeiten, geändert werden – im Bereich Alter und im Bereich Gender.
Ziele sind generell erkannt. Frauen in der Reha-Landschaft sind ökonomisch attraktive Klientel.

UH: Gerade in der Geriatrie ist Genderaspekt absolut unterbelichtet, da sind keine Unterschiede zwischen Männer und Frauen im Altenbericht ausgewiesen, ebenso in anderen Studien – da fehlen in der Tat richtig gestellte Anträge.

Anmerkung Dr. C. Schäfer, Apothekerkammer Nordrhein:
8.650 Präparate insgesamt im Arsenal - kaum Unterschiede bei Frauen und Männern bekannt. Bis in die 1990er-Jahre wusste man von 17 Prozent der Arzneimittel, dass sie bei Frauen anders wirken als bei Männern, das ist natürlich ein Problem. Kann Versorgungsforschung daran etwas ändern?

UH: Frauen sind nicht, wie oft behauptet, unterversorgt, das Gegenteil scheint jetzt der Fall zu sein: Sie nehmen im Alter von 80 Jahren etwa acht verschiedene Arzneimittel ein – das ist eher Überversorgung.

CK: Vielleicht hilft stärkere Begleitende Versorgungsforschung von Medikamenten, um zu aktuellen Erkenntnissen zu kommen.

TA: Hinterfragen, welche Standards sind in der Forschung? Macht es die Praxis nicht notwendig, stärker in die Begleitforschung zu gehen.

Frage Prof. Bettina Pfleiderer: Ist die Reha-Praxis auf Wandel eingestellt, dass mehr ältere Menschen und mehr Frauen kommen?

HO: Ziel ist erst mal ambulant vor stationär, auch in der Reha. Hier gibt es viel zu Klärendes.

Fazitrunde: .. und in fünf Jahren?

HO: ... dass Gendermedizin mehr ein öffentliches Thema wird!

UH: Im Moment geht alles stärker in biogenetische Forschung, in der EU, in den USA, dort geht das große Geld hin und nicht in Verhaltens- , Umwelt- oder Versorgungsforschung. Das sollte sich verändert haben.

CK: Das Thema der Gendermedizin und Kommunikation muss stärker in die Ausbildung der Mediziner Eingang finden.
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