Advance Gender: Konzept der Intersektionalität wird Gesundheitsberichterstattung optimieren

Interview
25.07.2023
Dr. med. Philipp Jaehn
Foto: MHB
Zwischen 2017 und 2022 wurden im Rahmen des Verbundprojekts AdvanceGender Methoden für eine geschlechtersensible Gesundheitsforschung und Gesundheitsberichterstattung entwickelt. Partner in diesem Projekt war, neben dem Robert Koch Institut und dem Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen, auch die Medizinische Hochschule Brandenburg Theodor Fontane (MHB). Wir sprachen darüber mit Verbundkoordinator Dr. Philipp Jaehn, MHB.

MHB-Professorin Christine Holmberg, die Verbundsprecherin, hat zur Auswertung des Projekts angemerkt: „Forschung und Gesundheitsberichterstattung sind aus unserer Sicht dann geschlechtersensibel, wenn wir in der Lage sind, gesellschaftliche Dimensionen von Geschlecht adäquat abzubilden.“ Dass dies bisher nicht geschehen ist, zeigt einen großen Mangel unserer Gesundheitsforschung. Wie hat sich das Projekt dieser Herausforderung gestellt?

Dr. Jaehn: Gesellschaftliche Dimensionen von Geschlecht sind Aspekte, die im Zwischenmenschlichen entstehen und dort existieren. Es ist also nicht ausreichend, auf biologische Merkmale einer Person, individuelle Einstellungen, oder psychologische Aspekte, zu schauen, sondern interpersonale Interaktionen oder gemeinschaftliche Vorstellungen und Normen zu erfassen. Wichtiges Beispiel für eine gesellschaftliche Dimension von Geschlecht sind Geschlechternormen. Dies sind Erwartungen des sozialen Umfeldes an eine Person aufgrund ihres Geschlechts – Kinderfürsorge Frauen betreffend, Broterwerb ist Männersache … Diese Normen sind immer noch weit verbreitet und schaffen eine Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Das Verständnis über die Wichtigkeit von sozialen Normen für Gesundheit haben wir uns bei AdvanceGender in einem interdisziplinären Team aus der Soziologie, den Gesundheitswissenschaften, der Medizin und Ethnologie erarbeitet.

Auch das Konzept der Intersektionalität lieferte uns einen formalen Ansatz, diese Komplexität von Geschlecht in der Forschung zu erfassen. Es wurde von Frauen in den USA entwickelt, die sich als schwarz identifizieren, und die einer Form von Diskriminierung ausgesetzt waren, die sich nicht durch die einfache Addition von Rassismus und Sexismus erklären lässt.

Welche Empfehlungen geben Sie nach Abschluss des Projekts, und wie kann abgesichert werden, dass Gesundheitsberichterstattung zukünftig neuen Anforderungen entspricht? Immerhin haben wir solche Berichte in vielen Bereichen, auf unterschiedlichen Ebenen, und eine qualitätvolle Umsetzung dürfte nicht einfach sein.

Dr. Jaehn: Wir haben auf Kongressen mit Verantwortlichen der Gesundheitsberichterstattung gesprochen, und den meisten war die Wichtigkeit von geschlechtersensibler Arbeit und Intersektionalität bewusst. Jedoch fehlt es in manchen Fällen, vor allem auf regionaler Ebene, an geeigneten Daten. Das heißt, oft fehlen z.B. Angaben zum Migrationshintergrund oder zum Arbeitsverhältnis, wichtige Merkmale für intersektionale Analysen. Wenn sie fehlen, sind Auswertungen nur bedingt sinnvoll. Nichtsdestotrotz haben wir Ansatzpunkte entwickelt, die auch auf regionaler Ebene verwendet werden können. Dazu gehört, einfache Vergleiche zwischen Geschlechtern zu machen und dann gesellschaftliche Rahmenbedingungen und theoretische Konzepte bei der Interpretation der Unterschiede heranzuziehen. Das bedeutet beispielsweise, als Ursache für die höheren Raten an Unfalltoten bei Männern gesellschaftlich konstruierte Normen zu Männlichkeit und die damit assoziierte Risikobereitschaft mit in Betracht zu ziehen.

Gesundheitsberichterstattung soll letztlich nicht nur für eine Retrospektive bisherigen Geschehens sinnvoll sein, sondern z.B. auch für die Planung innerhalb des Gesundheitssystems, also mit Blick auf – nicht zuletzt geschlechtersensible - Versorgungsforschung. Wie kann das zukünftig gelingen?

Dr. Jaehn: Wir wollten zeigen, wie wichtig theoretische Konzepte bei der Planung von Forschungsprojekten und der Interpretation von Ergebnissen sind. Dazu müssen theoretisch informierte Forschungsfragen gestellt werden. Also beispielsweise öfter nach Folgen von Diskriminierung für Gesundheit fragen, als dies bislang der Fall war. Nur so können wir neue Problembereiche offenlegen.

Ich erinnere mich eines Gesprächs, das ich vor einigen Jahren mit der damaligen Vorstandsvorsitzenden der NAKO-Gesundheitsstudie, Prof. Annette Peters, hatte. Sie sagte damals, dass es im Verlauf der Studie, die ja über etliche Jahrzehnte etwa 200 000 Menschen in Deutschland zu Gesundheit und Krankheit begleitet, sicher immer besser möglich werde, auch geschlechterspezifische Unterschiede zu berücksichtigen. Kann ein Projekt wie AdvanceGender dies beeinflussen – im Interesse einer geschlechtersensiblen Gesundheitsversorgung und Prävention?

Dr. Jaehn: Wir führen in Kooperation mit der NAKO Gesundheitsstudie bereits zwei intersektionale Auswertungen durch, eine zur Studienteilnahme, die andere zur Früherkennung von Krebs. Die große Stärke der NAKO ist, dass die Studie sehr viele Beobachtungen gesammelt hat. Damit wird es in Zukunft besser möglich werden, Zusammenhänge aus intersektionaler Sicht zu betrachten. Das bedeutet, dass wir auf dieser Grundlage bestimmt einige hochinteressante und geschlechtersensible Forschungsergebnisse sehen werden.
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