"Wir wissen noch viel zu wenig über die Geschlechtschromosomen", sagt Jeanette Erdmann. Die Direktorin des Instituts für Integrative und Experimentelle Genomik (IIEG) der Universität zu Lübeck erhofft sich von ihren Untersuchungen u. a. belastbare Aussagen über die Ursachen und die Entstehung der koronaren Herzkrankheit und des Herzinfarkts. Wir sprachen mit ihr.
Eigentlich verwundert es, dass die genetischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen immer noch zu selten im Fokus der Forschung stehen...
Prof. Erdmann: Männer haben ein X- und ein Y-Chromosom, Frauen haben zweimal X – das weiß inzwischen schon jeder. Aber in der Forschung war dies lange ein offensichtlich vernachlässigtes Thema. Genomweite Assoziationsstudien - Analysen, durch die wir in den letzten Jahren sehr viel über die genetischen Ursachen komplexer Erkrankungen gelenrt haben - sind in der Regel autosomal konzentriert, d. h. die Geschlechtschromosomen werden meist vernachlässigt. Hintergrund ist dabei, dass solche Analysen zunächst einmal aufwändiger sind als die bisherigen. Aber erfreulicherweise hat man erkannt, dass in den Geschlechtschromosomen viele genetische Informationen stecken und man daraus wichtige Rückschlüsse für die Entstehung von Krankheiten ziehen kann. Eine Lücke in den Ursachenforschungen kann auf diese Weise geschlossen werden.
Damit, so zeigen auch Ihre Forschungen, können unter anderem zunehmend mehr Aussagen über die Ursachen von koronarer Herzkrankheit und Herzinfarkt getroffen werden ...
Prof. Erdmann: Wir, das sind Professor Inke König und ich mit unseren Teams, zeigen, dass es durch bestimmte Algorithmen und Parametereinstellungen innerhalb der genomweiten Assoziationsstudien (GWAS) möglich ist, das Chromosom X quasi durchschaubar zu machen. Bisher noch unbekannte Mechanismen bei Krankheitsentstehung und -verlauf können entschlüsselt werden, die Risikovorhersage, bezogen auf unterschiedliche Patientengruppen, wird optimiert, neue Therapieziele ergeben sich. Für das Ziel einer geschlechtersensiblen Medizin ist das eine Erfolg versprechende Entwicklung.
Wir werden beim Internationalen Kongress für Geschlechterforschung in Berlin über diese Arbeiten berichten. Mir liegt aber vor allem am Herzen, die Notwendigkeit eines solchen Neu-Denkens in der Medizin zu vermitteln. Es handelt sich hier nicht, wie oft noch gedacht und behauptet, um „Frauenforschung“, sondern um neue Wege, die die Wissenschaft unbedingt gehen muss, wenn sie eine bessere Medizin für alle Geschlechter zur Verfügung stellen will. Das muss mehr als bisher öffentlich werden.