Niemand konnte auf langjährige Erfahrungen zurückgreifen, auf Handlungsanleitungen oder auf aufschlussreiche wissenschaftliche Expertise verweisen. Wie geht man mit einer solchen Herausforderung um, und was hat das mit Ihnen gemacht?
Dr. Frommhold: Wenn ich an diese Tage und Wochen im Frühjahr 2020 zurückdenke – das war schon ganz schön krass. Die sich überschlagenden Informationen über Covid-19, Intensivstationen, die fast über Nacht voll belegt waren, Patienten, die viele Fragen hatten, und ich kurz vor meinem Einstieg in die Funktion der Chefärztin. Stichtag dafür war der 1. Mai, aber schon kurz vor Ostern, also noch im April, kam der erste Patient zu uns. Wir sind eine auf Lungenerkrankungen spezialisierte Reha-Klinik, insofern waren Covid-Patienten – bei der ja bekannten Betroffenheit der Lunge – bei uns richtig. Aber natürlich hatte niemand Erfahrungen mit speziell dieser Erkrankung. Ich habe in all dem eine Chance für die Rehabilitation der Patienten, aber auch für unsere Klinik gesehen. Neue Herausforderungen zeigen neue Wege auf, offenbaren Stärken des Teams, machen Potenzen frei. Das alles hat sich bewahrheitet. Altbewährtes musste auf den Prüfstand, Behandlungsabläufe und Kriterien wurden neu durchdacht. Das war nicht immer leicht. Aber heute können wir sagen, wir haben es gemeinsam gepackt. Und wir freuen uns natürlich auch, dass unsere Expertise gefragt ist. Immerhin gehörten wir zu den allerersten, die sich aus Rehabilitationssicht der Covid-Patienten angenommen haben. Inzwischen sind es mehr als 2.000.
„Den“ Patienten, „die“ Patientin nach einer Corona-Erkrankung gibt es ja nicht, das konnten Sie sehr schnell feststellen ... …
Dr. Frommhold: Genau. Wir haben deshalb drei Gruppen im Fokus: Die einen haben nach einem mitunter recht schweren Krankheitsverlauf keine oder nur minimale Folgebeschwerden – echte Genesene. Eine zweite Gruppe muss über einen längeren Zeitraum weiter behandelt werden, um wieder voll leistungsfähig zu werden, wir sprechen hier von den Spätgenesenen, den Post-Covid-Patienten.
Die dritte Gruppe der Long-Covid-Betroffenen macht mir eigentlich die meisten Sorgen, zumal davon auszugehen ist, dass sie immer größer wird. Es sind Patientinnen und Patienten, die in der Regel leicht erkrankt waren, oft gar nicht im Krankenhaus oder gar auf der Intensivstation. Aber sie kommen oft nach Wochen nicht wieder auf die Beine oder erleben unerwartet arge Ausfallerscheinungen, Konzentrations- und körperliche Schwäche nie gekannter Art, Müdigkeit.
Hier müssen wir ein ganzes Arsenal von Therapiemöglichkeiten – Atemtherapie, Muskelaufbau, Konditionstraining, neurologische Behandlung, Gesprächstherapien, psychische Stabilisierung, sozialmedizinische Betreuung und anderes mehr – aufbieten, und das ist wieder eine neue Herausforderung. Für unsere Klinik, aber auch weit darüber hinaus.
Rehabilitation ist, wie wir sie heute betreiben, oft zu wenig ganzheitlich, beachtet zu selten die Komplexität von Erkrankungen, Neben- und Folgeerscheinungen. Es gibt dafür Ansätze, aber die wissenschaftliche Grundlage fehlt weitgehend. Wir haben in Deutschland kaum Lehrstühle für Rehabilitation!
Ich glaube, dass die Pandemie, dass Covid-19 auch das Fach Rehabilitation verändern muss und wird.
Damit ist schon der Bogen zur Gendermedizin geschlagen, dann auch hier gehen wir davon aus, dass die Pandemie ihre Akzeptanz stärken wird. Während bei den Covid-Erkrankungen die Männer sehr viel häufiger betroffen sind als Frauen, sieht es bei Long-Covid erheblich anders aus. Zweidrittel dieser Patienten sind weiblich, und das ist offenbar weltweit so. Welche Ursachen kann man festmachen oder vermuten?
Dr. Frommhold: Man kann davon ausgehen, dass das unterschiedliche Immunsystem bei Frauen und Männern sowohl beim Verlauf der Covid-Erkrankung also auch dann bei den Folgeerkrankungen bestimmend ist. Dass Frauen in Fall von Long-Covid stärker betroffen sind, sehen wir an unserer Klinik natürlich auch. Extrem starker Haarausfall ist dabei nur ein ganz sichtbares Beispiel dafür, glücklicherweise nicht bleibend. Was ich aber gerade bei den Patientinnen mittleren und jüngeren Alters, die jetzt bei uns eintreffen, feststelle, ist die starke psychische Belastung, die bei ihnen durch die Pandemie entstanden ist. Junge Frauen, die im Homeoffice arbeiteten und gleichzeitig die Beschulung der Kinder zu stemmen hatten. Oder auch mittelaltrige, die die Pflege ihrer alten Eltern bewältigen mussten. Auf diese Probleme wurde oft hingewiesen, aber ein echtes Neudenken dieser gesellschaftlichen Situation hat noch lange nicht stattgefunden.
Sie haben schon häufig in Interviews und Fachbeiträgen, aber auch in Ihren Vortrag in Greifswald betont, wie wichtig eine interdisziplinäre Bearbeitung auch des Themas Long-Covid sei. Gibt es dafür schon Beispiele?
Dr. Frommhold: Es freut mich sehr, dass sich hier etwas bewegt. Zum Beispiel arbeiten wir mit der Universität Lübeck – Frau Professorin Ruth Beck – an einer Multicenter-Studie zur Überprüfung der Wirksamkeit von medizinischer Rehabilitation nach Covid-19-Erkrankungen. Sowohl Erfahrungswissen als auch die Kooperation mit der Wissenschaft wird unser neugegründeter Fachverband Long-Covid bündeln.
Ein wichtiger Faktor muss zudem eine engere Zusammenarbeit mit anderen Fächern der Medizin sein, ich denke hier besonders auch an die Hausärzte. Viele Patientinnen und Patienten werden ihn – oder sie – zuerst aufsuchen, wenn Symptome von Long-Covid auftreten. Dann müssen nicht nur ausreichendes Wissen vorhanden sein, sondern auch notwendige Entscheidungen getroffen werden. Welche Therapie ist sinnvoll, welche Rehabilitation wird vorgeschlagen? Es ist noch viel zu tun, damit wir diesen Patientinnen und Patienten besser helfen können!
Das Gespräch führte Annegret Hofmann