Eine der wissenschaftlichen Leiterinnen unserer internationalen Tagung „Pandemie und Gendermedizin: Prävention und Gesundheitsförderung neu gedacht“ ist Professorin Dr. Sabine Oertelt-Prigione. Die Internistin und Gendermedizinerin lehrt in Nijmegen und an der Universität Bielefeld. Wir sprachen mit der Wissenschaftlerin und engagierten Netzwerkerin – seit mehr als zehn Jahren als Beiratsmitglied und im Vorstand von G3 auch mit dem unseren eng verbunden.
Mit der Pandemie kamen, eigentlich von Anbeginn an, viele Informationen in die Öffentlichkeit, die die Unterschiedlichkeit zwischen den Geschlechtern – in Erkrankungshäufigkeit, Schwere der Erkrankung, Verlauf und Genesung – aufzeigten. Das sollte eigentlich ein Push für die Gendermedizin sein...…?
Prof. Oertelt-Prigione: Die Pandemie hat sicherlich das Thema Geschlecht mehr in den Fokus gebracht. Das ist zunächst erfreulich, aber man muss abwarten, inwieweit diese öffentliche Aufmerksamkeit zu tatsächlichen Auswirkungen, sprich Veränderungen führt!
Für die Forschungspraxis sehe ich hier noch keine besonders erfolgversprechenden Entwicklungen. Unser Nature Communications Paper zu Covid-19 (https://www.nature.com/articles/s41467-021-24265-8) zeigt, dass trotz großer Aufmerksamkeit auch ein Jahr nach Pandemiebeginn (Jan 2021 im Vergleich zu Jan 2020) immer noch nur 20 Prozent der registrierten klinischen Studien zu COVID-19 das Geschlecht als Rekrutierungskriterium explizit adressieren und nur 4 bis 5 Prozent explizit angeben, dass dies Teil der Analysen sein wird.
Ob sich das ändern wird – zum Beispiel auch bei der Forschung zu Post-COVID? Spätestens da wird sich herausstellen, inwiefern Geschlecht noch mitgedacht wird oder ob wir einfach wieder in unsere alten Schemata zurückfallen.
Inwiefern werden sich diese Erkenntnisse über die Pandemie hinaus auswirken?
Prof. Oertelt-Prigione: Das ist vielleicht die wichtigste Frage. Die bereits erwähnten Daten zur Berücksichtigung von Geschlecht bei klinischen Studien sind ja nicht nur für COVID-19 relevant. Letztendlich ist das eigentlich eine Studie, die man bei sämtlichen Krankheitsbildern wiederholen könnte.
Auch andere Themen, die wir erst durch COVID-19 so gezielt angesprochen haben, sollten wir sicherlich darüber hinaus untersuchen. Manche haben sich auch erst durch die Pandemie herauskristallisiert. Wir haben hier in den Niederlanden zum Beispiel die Wünsche von Patientinnen und Patienten in Bezug auf Aufnahme in eine Intensivstation (intensive care IC) untersucht. Bei den Daten zeigt sich besonders in der zweiten Hälfte der ersten Welle 2020 ein deutlicher Geschlechterunterschied, den wir nicht durch klinische Unterschiede erklären können. Warum sind Frauen eher bereit, ihren IC-Platz nicht in Anspruch zu nehmen? Sind das ähnliche Mechanismen wie bei der höheren Bereitschaft von Frauen zu einer Lebendorganspende? Was und wer beeinflusst diese Entscheidung und ist es tatsächlich als Verzicht einzustufen? Wir könnten uns nämlich auch einfach fragen, inwiefern sich unsere Prioritäten und Wünsche am Lebensende geschlechtsbedingt unterscheiden.
Was ist aus Deiner Sicht international zu leisten? Und was ist in der Pipeline?
Prof. Oertelt-Prigione: International hat sich durch z.B. das Netzwerk „Gender and COVID-19“ viel getan. Es hat viele Expert/innen aus unterschiedlichen Ländern zusammengebracht, es wird viel organisiert, geschrieben und geteilt. Es sind zahlreiche Positionspapiere erschienen, viele Organisationen sind einbezogen, u.a. UN, WHO, die Panamerikanische Gesundheitsorganisation PAHO und viele andere. Wir hatten beim „Generation Equality Forum“ Ende Juni in Paris, dem Nachfolgeforum zu Beijing 1999, z.B. aus dem Netzwerk heraus eine Session zu Gender und COVID-19. COVID-19 gibt uns hierbei die Möglichkeit, die Verzahnung von gesellschaftlicher Teilhabe, Entscheidungsfähigkeit im Gesundheitssystem und Priorisierung bei der medizinischen Forschung aufzuzeigen. Wenn Frauen und andere Geschlechter nicht an den Entscheidungsprozessen teilhaben, können sie die Prioritäten nicht mit definieren, was sich wiederum in den Versorgungsangeboten und den Bereichen, die mehr oder minder staatliche Unterstützung empfangen, niederschlägt.
Auf EU-Ebene gibt es nun vor allem den Druck, mit den wachsenden Anforderungen in Zukunft Gender Equality Plans vorzulegen, wenn man Forschungsgelder beantragen möchte, quasi als Voraussetzung für deren Bewilligung. Diese internationalen Initiativen spiegeln sich dann in nationalen Entscheidungen, zum Beispiel in den neuen Kriterien der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Ich mache mich seit Jahren für diese Art von Vernetzung stark, sie ist aus meiner Sicht essentiell – international, aber auch national und lokal. Deshalb freue ich mich auch auf den Austausch in Greifswald!
Du bist jetzt in Bielefeld und Nijmegen aktiv – wie könnte die Zusammenarbeit aussehen, gibt es da schon Projekte?
Prof. Oertelt-Prigione: Ich bin im Moment in einer totalen Aufbauphase, aber es soll – und wird – sich viel tun. Mein Netzwerkgedanke und die Überzeugung, die geschlechtersensible Medizin als Innovationskonzept zu etablieren, ist hier starker Motor. In NRW tausche ich mich mit vielen Kolleg/innen aus, die seit Jahren vor Ort aktiv sind. Ich freue mich schon enorm auf die zukünftige Zusammenarbeit. Seit langem bekannt ist das Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung, und die Uni Bielefeld selbst hat ebenfalls eine gute Tradition in der Geschlechterforschung. Das sind Grundvoraussetzungen, die denen in Holland z.T. ähneln, ebenso wie eine große Offenheit, gemeinsam etwas aufzubauen.
Die Zusammenarbeit sehe ich als eine Möglichkeit des ständigen Voneinander-Lernens und der schnellen Weiterentwicklung von Ansätzen durch die Erprobung in unterschiedlichen Settings.
Im Moment geht es vor allem um die Curriculumsentwicklung, wir setzen dabei auf neue Lehrformate. In Nijmegen untersuchen wir, welche „kreativen“ Methoden Studierende bei der geschlechtsspezifischen Lehre bevorzugen. Diese Ergebnisse fließen zum Teil in ein Seminar ein, das ich für Bielefeld entwickle. Hier werden wir deutsche Start-Ups einladen, um ihre Erfahrungen zu teilen, ein holländischer Design-Experte unterstützt uns dabei. Die Studierenden in dem Blockseminar sollen motiviert und befähigt werden, kreative design-basierte Lösungen zu entwickeln. Am Ende profitieren alle davon: Die Studierenden müssen sich im ersten Semester mit einem praxisbezogenen geschlechtersensiblen Problem auseinandersetzen und lernen Design-Thinking-Methoden kennen, die Start-Ups bekommen Feedback von potenziellen zukünftigen Nutzer/innen, und alle lernen interdisziplinär und grenzübergreifend miteinander Lösungen zu erarbeiten. Und haben hoffentlich Spaß dabei! Denn letztendlich ist mein Ziel, in der Lehre neben dem Überbringen von Wissen vor allem eins, die Studierenden zu inspirieren!
Das Interview führte
Annegret Hofmann
https://www.sciencemag.org/news/2021/07/covid-19-affects-men-and-women-differently-so-why-don-t-clinical-trials-report-gender
Geschlechtersensible Medizin:
interdisziplinär, vernetzt, kreativ – und mit Spaßfaktor
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