Prof. Dr. Arzu Oezcelik:
„Es wird Zeit, bei Transplantationen genauer hinzuschauen.“

Interview
15.03.2022
Prof. Dr. Arzu Oezcelik leitet den Bereich Viszerale Transplantation in der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie am Universitätsklinikum Essen. In Genderteildenomination hat sie zudem eine Professur für Viszerale Transplantation unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte. In den kommenden fünf Jahren wird Professorin Oezcelik untersuchen, inwieweit der Erfolg einer Leber- oder Nierentransplantation vom Geschlecht abhängt. Wir sprachen mit ihr.

Frau Professorin, Sie gehen damit ein seit Jahren bekanntes, aber offensichtlich noch ungeklärtes Problem bei Transplantationen an. So werden Organe von verstorbenen weiblichen Spendern vom Immunsystem vergleichsweise häufig abgestoßen und haben schlechtere Überlebenschancen. Zu diesem Schluss kamen Ärzte aus Basel und Heidelberg bereits 2002, nachdem sie die Ergebnisse von etwa 200.000 Nierenverpflanzungen untersucht haben. Auch das ist Fakt: Die Gefahr, dass eine Niere abgestoßen wird, ist rund zehn Prozent höher, wenn eine Frau sie von einem Mann bekommt, als bei allen anderen Geschlechter-Kombinationen. Viele Fragezeichen also.

Prof. Oezcelik: Eben diesen Fragen wollen wir nachgehen! Wie in vielen anderen medizinischen Fächern ist die Datenlage unzureichend. Seit ich mich intensiv mit den geschlechterspezifischen Fakten befasse, ist es mir fast peinlich, dass wir diese Thematik so lange zu wenig bearbeitet haben. Umso wichtiger ist es, dass wir jetzt im Rahmen unserer Projekte genauer hinschauen können. Gemeinsam mit einer Doktorandin werde ich retro- und prospektiv belastbares Datenmaterial bereitstellen können. Ein übergeordnetes Ziel ist es, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass diese geschlechtsspezifischen Parameter in unseren klinischen Alltag und bei der Entscheidungsfindung in der Transplantationsmedizin integriert werden müssen.

Gibt es erste Ansätze für eine Erklärung dieser Schwierigkeiten bei Transplantationen?

Prof. Oezcelik: Eine, aber eben nur eine Erklärung für die „Unverträglichkeit“ könnte, wie bei anderen geschlechterspezifischen Unterschieden in der Medizin, in den Geschlechtshormonen liegen, in der Immunlage. Nehmen wir das männliche Y-Chromosom. Es ist dafür verantwortlich, dass sich auf den Organen von Männern das Immunsystem stärkende Moleküle befinden. Das weibliche Immunsystem bekämpft diese Moleküle, es kommt zu Autoimmunreaktionen. Wie gesagt, das ist eine von möglichen Erklärungen.
Zudem gibt es natürlich Unterschiede bei Gewicht und Größe der Organe. Frauen benötigen durchschnittlich kleinere als Männern.
Unter diesen Gesichtspunkten ist sicher auch eine Überarbeitung der Parameter des Meld-Scores notwendig. Er ist ein Maß für die Dringlichkeit einer Transplantation – in diesem Fall der Leber –, schätzt die Lebenserwartung des Patienten ein.

Immunsuppressiva sollen Abstoßungsreaktionen verhindern oder eindämmen.

Prof. Oezcelik:
Sicher spielen sie und andere Komponenten bei der Abstoßung auch eine große Rolle. Inwieweit die Immunsuppressiva, also Substanzen, die die Funktionen des Immunsystems vermindern, bereits geschlechtersensiblen Kriterien Rechnung tragen, muss auf jeden Fall hinterfragt werden. Schließlich kennen wir das ja inzwischen von einer ganzen Reihe von Medikamenten: Was ihm guttut, muss bei ihr nicht zutreffen. Und umgekehrt.

Eine Schweizer Umfrage im öffentlichen Raum hat gezeigt: Mehr Frauen als Männer haben einen Spenderausweis. Und tatsächlich entscheiden sich auch bei uns mehr Frauen für eine Lebendspende – für Familienmitglieder, Freunde – als Männer. Ist das reiner Altruismus, Opferrolle oder ...?

Prof. Oezcelik:
Ich denke, es ist von allem etwas dabei – wenn wir von der sogenannten Lebendspende reden.
Unbestritten ist die größere Aufgeschlossenheit von Frauen der Medizin und deren Möglichkeiten gegenüber. Immerhin sind sie es ja, die sich häufiger an Vorsorgemaßnahmen beteiligen, öfters den Arzt aufsuchen, mehr medizinische Ratgeber lesen.
Ebenfalls beachtenswert – der sozio-kulturelle Hintergrund. Wo der Mann als Ernährer eine unverzichtbare Rolle spielt und seine Erkrankung eine Existenzfrage für die Familie ist, wird die Frau ohne lange zu zögern ein Organ spenden, während ihre eigenen Erkrankungen nicht so wichtig genommen werden. Ich habe das bei meiner Arbeit in der Türkei gesehen. Wir kennen das aber auch bei Patienten aus unterschiedlichen Kulturkreisen in Deutschland.
Es bleibt ohne Frage die Notwendigkeit, noch mehr über Organspenden aufzuklären bisher. Und zwar in einer Weise, dass Menschen sich gut informiert fühlen, sowohl als potenzielle Spender oder als Empfänger.
Wir reden hier über die Lebendspende. Die Situation sieht etwas anders bei den Verstorbenenspenden. Da ist der Anteil der männlichen Spenderorgane größer. Eine mögliche Erklärung dafür wäre z.B. dass Erkrankungen, die zum Hirntod führen, häufiger bei Männern auftreten als bei Frauen und es deshalb auch mehr männliche Verstorbenenspenden gibt.
In den sogenannten Entnahmekliniken – es sind etwa 1250 in Deutschland – gibt es Transplantationsbeauftragte, die sich um alle Belange einer anstehenden Organspende kümmern, zum Beispiel auch mit den Angehörigen sprechen, wenn das Organ eines Verstorbenen für eine Entnahme infrage kommt, aber kein Spenderausweis vorliegt. Sind diese Ärztinnen und Ärzte ausreichend auf solche oft emotional beladenen Gespräche vorbereitet? Reicht wirklich ein 40-Stunden-Lehrgang? Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht auch ein Thema für Studien.

Ihr Projekt ist eingebettet in die Aktivitäten der Universität Duisburg-Essen, in den nächsten Jahren wissenschaftliche Forschungsvorhaben bezüglich der Gendermedizin zu fördern.

Prof. Oezcelik:
Eine spannende Aufgabe, der ich mich gern stelle! Im Essener Kolleg für Geschlechterforschung (EKfG) bilden Prof. Dr. Anke Hinney, Prodekanin für wissenschaftlichen Nachwuchs und Diversität, PD Dr. Andrea Kindler-Röhrborn und ich ein Team, das andere Wissenschaftler/innen der Medizinischen Fakultät und der Uniklinik dabei unterstützt, Genderaspekte in neuen Forschungsprojekten zu berücksichtigen. Das wird Schule machen.

Wir wünschen Ihnen viel Erfolg und berichten gern weiter!

Das Gespräch führte Annegret Hofmann
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