Prof. Dr. Burkhard Sievers: 
Für die geschlechtersensible Medizin sind „vier Punkte entscheidend“

Interview
26.06.2022
Gendermedizin sei eines seiner Steckenpferde, schrieb eine Zeitung über Prof. Dr. Burkhard Sievers, Chefarzt der Klinik für Kardiologie, Angiologie, Pneumologie, Nephrologie und Intensivmedizin am Sana-Klinikum Remscheid und Praxisinhaber von Cardiomed24. Dieser Mann interessiert uns, fanden wir, und sprachen mit ihm.

Ehrlich gesagt, wir haben im Laufe der vergangenen zwölf Jahre, in denen wir für unseren Newsletter mit Expert/innen über geschlechtersensible Medizin sprachen, noch wenige männliche Ärzte und Wissenschaftler getroffen, die sich diesem Thema so offensiv stellen ... Hatten Sie ein Schlüsselerlebnis?

Prof. Sievers: Kein Schlüsselerlebnis, an das ich mich erinnere, eher offenen Auges über das Thema gestolpert! Ich denke, als Kardiologe und Notfallmediziner kann man die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zum Beispiel beim Herzinfarkt gar nicht ignorieren. Aber sicherlich war der Blick bei mir auch geschärft durch mein Interesse an der Frauenheilkunde während des Studiums. Der klinische Alltag lieferte immer weitere unübersehbare Fakten: Fehldiagnosen, Unverträglichkeiten bei Medikamenten, Therapieabbrüche, schlechteres Outcome ...
Ich habe mich einfach in der Pflicht gefühlt, diese Erkenntnisse nicht einfach hinzunehmen, sondern als Herausforderung für meine, unsere tägliche Arbeit zu begreifen.

Sie haben die Anerkennung als Gendermediziner der DGesGM erworben und vertreten als Vorstandsmitglied der DGesGM deren Ziele, das ist ehrenwert, aber haben Sie nicht manchmal auch das Gefühl, dass sich geschlechtersensible Medizin in Klinik und Praxis viel zu langsam durchsetzt? Wo sehen Sie die wichtigsten Ansatzpunkte, um das Thema im Praxis- und Klinikalltag zu integrieren?

Prof. Sievers: Ohne Fortbildung geht es nicht, ohne Sensibilisierung für das Thema auch nicht. Das kann täglich bei den Visiten geschehen, über Fortbildungsprogramme und Einbeziehung der Nachbarfächer. Krankheiten halten sich nicht an Fachgebietsgrenzen, Onkologie, Gynäkologie, Kardiologie und weitere Fachgebiete müssen im Interesse der Patientinnen koordiniert vorgehen, das heißt auch, möglichst gleicher Wissensstand, gleiche Qualität bei der Versorgung.

Folgende vier Punkte sind entscheidend: Angefangen werden muss bereits im Medizinstudium. Hier muss es Vorlesungen aller Fächer und Fachrichtungen geben, die geschlechtsspezifische Unterschiede herausstellen und lehren. Weiterhin muss es vorgeschriebene zertifizierte Pflichtfortbildungen für praktizierende Ärztinnen und Ärzte geben, die für das Fortbildungszertifikat angerechnet werden. Auch muss geschlechtsspezifische Medizin am Krankenbett den Ärztinnen und Ärzten im Rahmen der Weiterbildung vermittelt werden. Entscheidend ist auch, bei der Planung wissenschaftlicher Studien Männer und Frauen in gleicher Häufigkeit zu berücksichtigen und eine geschlechterspezifische Auswertung durchzuführen. Dabei sollte möglichst z.B. auch der hormonelle Zyklus der Frau berücksichtigt werden. Die Verbesserung der Studienlage und eine geschlechterdifferenzierte Auswertung sind dringend notwendig und Grundlage neuer geschlechtersensibler Leitlinien.

Nur durch Umsetzung all dieser Punkte wird es gelingen, dass man in den Packungsbeilagen der Medikamente nicht dieselbe Dosierung für Frauen und Männer findet , sondern individuelle Dosierung, unterschiedliche Blutdruckgrenzwerte für Männer und Frauen und vermutlich auch unterschiedliche Blutfettwerte etc.

Dann werden wir Vorteile sehen: weniger Nebenwirkungen, weniger Therapieabbrüche bei durch individuelle Dosierungen besserer Verträglichkeit und Wirksamkeit, außerdem durch individuelle Grenzwerte von z.B. Blutdruck- und Fettwerten eine bessere Risikosteuerung für zukünftige Erkrankungen oder Ereignisse.

Sie selbst, das kann man auch den Veröffentlichungen entnehmen, die man im Internet findet, nutzen alle Gelegenheiten, um geschlechtersensibler Medizin eine Stimme zu geben ...

Wenn wir in Medizin und Gesundheitssystem auf einem guten Weg sein wollen, müssen wir das! Natürlich sind Ärzt/innen Dienstleister für ihre Patient/innen, aber sie haben auch die Kompetenz und die Expertise in der Gesellschaft, für alle notwendigen Verbesserungen im Gesundheitssystem einzutreten, ja sie haben sogar die Verpflichtung, das zu tun. Mit dem YouTube-Format Sievers SprechRunde und als Podcast versuche ich das mir Mögliche zu tun, mit Blick auf das Gesundheitssystem allgemein, aber natürlich auch bezüglich geschlechtersensibler Medizin. Weil es Experten aus Klinik und Praxis braucht, die das tun.

Wir wünschten uns, viele Ihrer Kolleg/innen täten es Ihnen nach!

Das Interview führte Annegret Hofmann
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