Frau Professorin, Ihre Funktion ist an einer Uni ziemlich einmalig. Was können Sie bezüglich der Genderthematik wie auch der Gendermedizin bewegen?
Prof. Meyer: Wir bewegen gemeinsam etliches! Ich stelle fest, dass es zunehmend eine Sensibilisierung vieler zu diesem Thema gibt. Die oben genannte Ringvorlesung, die Ende November startet, ist nur ein Beispiel dafür. Wir haben in der Vorbereitung wie auch bei einer durch den Deutschen Ärztinnenbund initiierten Befragung festgestellt, dass viele Fächer in der Medizin spannende Ansätze für neue Erkenntnisse zu Geschlechterunterschieden bieten und schon in die Lehre Einzug gehalten haben. Wichtig ist nun auch, dass die Gendermedizin als Querschnittsmaterie in die Curricula eingeht.
Können Sie einige Beispiele nennen?
Prof. Meyer: Die Kolleg/innen berichteten z. B. aus dem Studienabschnitt „Vorklinik“, dass bereits im 1. Fachsemester Aspekte des gendersensiblen Sprachgebrauchs im Rahmen der Medizinischen Terminologie gelehrt werden. Gleiches gilt für die makroskopische Anatomie. Die Differenzierung zwischen weiblicher und männlicher Anatomie werden sowohl im Kurs als auch in den Vorlesungen konsequent thematisiert. Im Wahlpflichtfach aus dem Gebiet „Geschichte, Theorie, Ethik der Medizin“ wird bei allen angebotenen Themen aus diesem Bereich auf eine angemessene Thematisierung von Genderaspekten geachtet.
In der Lehre der manuellen und nichtmanuellen Fertigkeiten - Vorklinik, Einführung in die klinische Medizin, Klinik - im SkillsLab des Dorothea-Erxleben-Lernzentrums Halle werden genderbezogene Themen insbesondere ins Standardisierte Patient(inn)en-Programm integriert, so dass die Studierenden in der Lage sind, aufkommende Fragen zur sexuellen Identität, zur Perspektive der Familienplanung, Lebensgestaltung usw. zu beantworten. Diese Aufzählung könnte fortgesetzt werden
Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a., wie auf der Uni-Website zu lesen, „Klinische und epidemiologische Forschung zu Gesundheits- und Pflegefragestellungen des höheren Lebensalters...“. Geschlechter- und Altersdifferenzierung haben ja in der Pflege ein besonderes Gewicht...
Prof. Meyer: Das ist zweifellos so, und im Themenkomplex Gerontologie, Geriatrie und Pflege haben diese Fragestellungen immer eine Rolle gespielt. Natürlich müssen insbesondere Pflegende von Berufs wegen um die neuen Erkenntnisse zur Gendermedizin wissen, aber es geht auch um das Wissen zum unterschiedlichen Gesundheits- wie auch Krankheitsverhalten von Menschen unterschiedlichen Geschlechts wie auch sozialer und kultureller Herkunft, Ethnie usw.
Ich stehe deshalb für eine konsequente Verwissenschaftlichung der Pflege, die natürlich mit solchen neuen Erkenntnissen wie der Gendermedizin in engem Zusammenhang zu sehen ist.
Inwieweit dies in den praktischen Feldern der Pflege – in der Klinik, durch Pflegedienste oder auch in der Familie – schon wahrgenommen wird, ist schwer zu sagen. Das ist ein Prozess, den wir befördern müssen. Vielleicht auch durch solche Angebote wie die Ringvorlesungen, die ja öffentlich sind.
Und um noch einmal auf unsere Möglichkeiten in der Lehre zurückzukommen:
Auch in meinem Fach, in den Studiengängen der Gesundheits- und Pflegewissenschaften - Bachelor, Master, Promotionskolleg - sind Genderaspekte sowohl Inhalt Aals auch Prüfungsstoff. Und bei der Konzeption des neuen Bachelor-Studienganges Evidenzbasierte Pflege wurde das Curriculum sowohl inhaltlich als auch formal unter Berücksichtigung von Genderaspekten und gendergerechter Sprache entwickelt.
Ein weiterer Geschlechter-Aspekt in der Pflege ist, dass vor allem Frauen pflegen – nicht nur in den Einrichtungen, sondern auch in den Familien. Darüber wird vor allem unter dem Gesichtspunkt der Entlastung für Pflegende schon häufig diskutiert. Wie kommt man hier zu einer „Geschlechtergerechtigkeit“?
Prof. Meyer: Hier sehe ich eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Wissenschaft kann Fakten liefern, Einstellungen analysieren, Vorschläge zur Veränderung machen. Umgesetzt werden müssen diese aber vor Ort. Wie gelingt es Frauen, die oft bis zur Selbstaufgabe pflegen, Angebote zur Unterstützung wahrzunehmen? Männer tun dies eher, wie aktuelle, auch eigene Studien zeigen. Hier gibt es noch viele Fragen zu beantworten.
Das Interview führte Annegret Hofmann