Prof. Vera Regitz-Zagrosek im Interview mit Medusablätter:
Die Biologie schafft Fakten – wie geht man mit ihnen um?

Artikel
16.10.2019
Es gab die Frauenbewegung in den 1960er und 70er Jahren. Die Gendermedizin beginnt aber, zumindest in Europa, erst in den 2000er Jahren. Wie erklären Sie sich dieses späte Interesse?

Vera Regitz-Zagrosek: Das ist schwer zu sagen. Die frühe Frauenbewegung ging davon aus, und das ist etwa in Frankreich noch immer der Fall, dass Männer und Frauen gleich sind. Wir glauben zwar auch, dass Frauen und Männer die gleichen Rechte haben sollten und gleichberechtigt sein müssen, aber nicht, dass sie gleich sind. Dieses Konzept, nämlich den Blick auf die Ungleichheiten zu werfen, um beide gleich gut behandeln zu können, haben die Französinnen nicht so leicht nachvollziehen können.

Sie erwähnen Frankreich. Hat das Land sehr spät die Gendermedizin entdeckt?

Ich habe im Jahr 2015 einen Vortrag über Gendermedizin an der Académie Française halten dürfen. Es gab ein sehr heftiges Presse-Echo, man hat sich wirklich empört, dass der Blick auf die Unterschiede zwischen Männern und Frauen geworfen wurde. Von der Tageszeitung Le Monde bis zur satirischen Wochenzeitung Le Canard enchaîné gab es teils sehr giftige Kommentare darüber, dass „Männer und Frauen jetzt nicht gleich sein sollten“. Aber es ist nun einmal so: Männer und Frauen sind biologisch nicht gleich. Um sie aber gleich gut zu behandeln, muss man diese Ungleichheit verstehen. Von den Reaktionen war ich sehr überrascht. Ich habe es dann verstanden, als ich mich mit den feministischen Theorien befasst habe. Es gibt eben Formen von Feminismus, die konzeptuell gegen jede Unterschiedlichkeit zwischen Mann und Frau sind. Ich denke, dass sie sich irren, denn die Biologie schafft Fakten. Die Frage ist also, wie man mit den Fakten umgeht, nicht wie man die Fakten negiert.

Also hat die Gendermedizin ein zwiespältiges Verhältnis zu manchen feministischen Bewegungen?

Zu einigen. Natürlich nicht mit den feministischen Bewegungen, die betonen, dass Männer und Frauen die gleichen Rechte brauchen, ohne darauf zu fokussieren, dass sie gleich sind.

Welchen Weg in Sachen Gender sind Sie selber gegangen?

Ich habe tatsächlich am Anfang sehr viel Wert auf die rein biologischen Unterschiede zwischen Männer und Frauen gelegt, die mir immer noch sehr wichtig sind, und habe dann immer mehr über die Interaktionen des sozio-kulturellen Genders mit dem biologischen Geschlecht gelernt. Heute befassen wir uns mit den Interaktionen und versuchen herauszufinden, wie die sozio-kulturelle Dimension mit der Biologie interagiert. Es geht in zwei Richtungen: Einmal beeinflusst die Biologie, wie etwa Körpergröße oder Körperfett, das Verhalten, und auf der anderen Seite beeinflusst auch das Verhalten – z.B. die Exposition von Umweltgiften, Schadstoffen, Rauch, Essverhalten, Trainingsverhalten – die Biologie. Und die moderne Biologie liefert dafür auch Erklärungen in Form der sogenannten Epigenetik-Mechanismen, so dass moderne Gender-Theorie und moderne molekulare Biologie zusammenkommen. Die Wechselwirkung in Auge zu behalten ist wichtig, und wir denken, dass die Wechselwirkung in beide Richtungen geht. Wir sehen das als reziprokes System.

Wird die Gendermedizin von manchen Forschern instrumentalisiert, damit ein bestimmtes Geschlecht letztlich besser dasteht als das andere?

Es gibt diese Tendenzen sowohl auf Frauenseite als auf Männerseite. Es gibt eine Männergesundheitsforschung, die die Männer als das vernachlässigte Geschlecht sieht, und es gibt eine Frauengesundheitsforschung, die die Frauen benachteiligt sieht. Aber mit beiden Gruppierungen habe ich mich aus Zeitmangel nie wirklich befasst.

Hat die #MeToo-Welle etwas zur Gendermedizin beigetragen?


Vielleicht entfernt in dem Sinne, dass die Aufmerksamkeit auf das Geschlecht gelenkt wurde, im Prinzip sind es aber sehr unterschiedliche Themen.

Gehen wir zurück zu den Anfängen von „Gender in Medicine“. Was hat Sie dazu gebracht, sich für dieses Feld Anfang 2000 zu engagieren?

Ich war damals leitende Oberärztin am Deutschen Herzzentrum in Berlin und habe immer wieder gesehen, dass wir Probleme mit der Behandlung von Frauen haben. Ich stellte auch fest, dass wir sehr wenige weibliche Patientinnen hatten, etwa 20 bis 25 Prozent in manchen Bereichen. Das hat mich erstaunt. Dann habe ich angefangen, mir Gedanken über die Behandlung von Frauen und Männern bei Herzerkrankungen zu machen, und habe bemerkt, dass Frauen andere Herzprobleme als Männer bekommen, und dass diese in unserem System nicht wirklich erforscht sind. So entstand noch im Jahr 2003 eine Professur für Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen an der Charité, die ich bekam. Ich sah dann, dass man nur mit einem Frauenansatz nicht alle Aspekte gut abdecken kann, und habe dann angefangen, mich der Theorie von Geschlechtsunterschieden, also mit Gender zu befassen, und zu überlegen, ob es unterschiedliche Bedürfnisse in der Medizin bei Frauen und Männern gibt. Daraus ist ein Zentrum für Gendermedizin in der Charité geworden, für das wir 2007 sogar einen Wissenschaftspreis erhielten: den Margherita-von-Bretano-Preis. Daraus wiederum wurde ein interdisziplinäres Zentrum für Gendermedizin.

Wie reagierte Ihr berufliches Umfeld damals?

Meine Kollegen in der Kardiologie waren fast alle Männer und ich hatte ein relativ gutes Ansehen, bevor ich das gemacht habe. Die typische Reaktion war eigentlich: „Du hast doch immer so gute Forschung betrieben. Warum tust du jetzt etwas so Merkwürdiges?“ Das hat niemand richtig verstanden, aber ich hatte einen Vertrauensvorschuss, weil ich als Forscherin anerkannt war, und deswegen konnte ich eine Arbeitsgruppe für Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen bei der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie im Jahre 2003 gründen. Damals gab es nur in Stockholm, Berlin und Wien einige, die sich für die Genderaspekte in der Medizin interessierten. Die Amerikanerinnen hatten vor uns Europäerinnen dieses Feld in den 1980er und 90er Jahre etabliert, allerdings unter den Namen Frauengesundheitsforschung, das heißt eine Forschung, die Frauen in der Medizin berücksichtigt. Wir haben entschieden, dieses Konzept auf die Männer auszuweiten, weil wir der Meinung sind, dass die Gendermedizin beiden Geschlechtern nützt. Zum Beispiel werden Männer mit Depression oder Osteoporose, typischen Frauenerkrankungen, auf einer schlechteren Wissensbasis als Frauen behandelt. Die Idee ist, eine Medizin zu haben, die den Patient ganzheitlich wahrnimmt.

Welche Bilanz können Sie seit 2003 ziehen? Was wurde in der Gendermedizin erreicht?

Das Thema Geschlecht ist angekommen und wird nun vielfach akzeptiert. Von 2008 bis 2015 haben wir eine sehr große Förderung von der DFG bekommen, um herauszufinden, wie die biologischen Unterschiede bei Herzerkrankungen sind. Auf EU-Ebene versucht man in den Forschungsrahmenprogrammen seit 2016 Geschlecht und Gender zu integrieren. Es gibt einen Advisory Board, der dafür sorgen soll, dass diese Aspekte in allen Forschungsprojekten vorkommen oder zumindest diskutiert werden. Die Amerikaner haben eine Richtlinie bei ihrem nationalen Gesundheitsinstitut (NIH) im Jahr 2015 verabschiedet: Sie besagt, dass alle Grundlagen- und klinischen Forschungsprojekte erklären müssen, wie sie mit Geschlechterunterschieden umgehen. Sie können jetzt nicht mehr bloß Untersuchungen an männlichen Tieren machen und dann behaupten, dass die Ergebnisse für Männer und Frauen gültig seien, was früher Gang und Gäbe war. Kanada geht genauso vor. Im Jahr 2018 wurde ein Büro für Gendermedizin (Institut of Gender and Health) gegründet, das sich damit befasst, geschlechtsspezifische Aspekte in alle Forschungsprojekte zu integrieren.

Deutschland war Vorreiter mit Schweden in Europa vor 15 Jahren, wie steht heute das Land im europäischen Vergleich?

Die skandinavischen Länder stehen an der Spitze. In Deutschland gibt es noch viele Vorbehalte, mittlerweile gibt es ein paar Forschungsprogramme, die auch Gender berücksichtigen, aber das sind die wenigsten. Es gibt auch nur eine einzige Universität, und zwar die Charité, die Gendermedizin systematisch als Pflichtlehre integriert hat. In anderen Städten wie Freiburg, Münster, Hannover, München werden nur Wahlveranstaltungen angeboten. Das Thema kommt an, aber die Frage ist: Was ist im Medizinstudium Pflicht? Ansonsten gibt es einige Krankenhäuser, die damit Werbung machen, dass sie Genderaspekte berücksichtigen. Aber es wird in Deutschland zu wenig investiert, es gibt zu wenig Frauen in Leitungspositionen und es werden auch zu selten frauenspezifische Aspekte bei der Forschungsförderung berücksichtigt.
In der Schweiz gibt es überall einzelne Ärzt/innen, Forscher/innen oder Gesundheitspolitiker/innen, die sich damit befassen. Die Universität Zürich hat mir für Herbst die Anna-Fischer-Dückelmann Gastprofessur für Gendermedizin angeboten, und da wollen sie ein Gender-Medizin Curriculum mit systematischen Richtlinien für die Versorgung von Frauen und Männern bei den wichtigsten Erkrankungen etablieren. Frankreich bleibt sehr konservativ in diesem Bereich.

Und wie steht es um die Behandlung von Patientinnen mit Arzneimitteln, die lange nur bei Männern getestet wurden? Seit 2004 gibt es immerhin eine gesetzliche Empfehlung in Deutschland, die besagt, dass alle neuen Medikamente bei Frauen und Männern getestet werden müssen.

Es gibt zumindest diese Empfehlung, aber man muss ja sehen, dass die Entwicklung eines Medikamentes 10 bis 15 Jahre dauert, insofern gibt es eine große Zeitverzögerung. Wir haben jetzt eine Untersuchung gemacht, die wir in einer US-amerikanischen Zeitschrift veröffentlicht haben, um zu erfahren, wieweit die großen international laufenden Arzneimittelzulassungsstudien die Nebenwirkungen bei neuen Medikamenten für Herzfehler geschlechtsspezifisch aufschlüsseln. Nur 11 Prozent der Studien tun es! Die Daten für Männer und Frauen sind vorhanden und müssen es auch sein, aber sie werden nicht geschlechtsspezifisch aufgelistet. Es gibt somit noch ein ziemlich großes Defizit auf dem Gebiet, und es betrübt mich sehr, dass sich in den letzten zehn Jahren kaum etwas verbessert hat. Mit anderen Worten, es gibt ein Bewusstsein, es gibt erste Studien, aber die Pharmaindustrie weltweit sträubt sich extrem dagegen, geschlechtsspezifische Aspekte in ihre Studien zu integrieren.

Mittlerweile weiß man einiges über die Geschlechtsunterschiede bei Herzerkrankungen. Welche Pathologien werden aktuell in der Gendermedizin diskutiert?

Aging ist ein wichtiges neues Thema, da machen wir gerade eine erste große Studie in der Charité. Onkologie ist auch ein Thema, das wird immer wieder angeführt. Bestimmte Therapien sind jetzt bereits bei Männern und Frauen unterschiedlich, viele Medikamente haben etwa bei Frauen mehr Nebenwirkungen. Rheuma ist ganz wichtig, alle Autoimmunkrankheiten sind überwiegend Frauenerkrankungen, die auch vom Wegfall der Hormone beeinflusst werden. Die Rehabilitation nach Schlaganfällen müsste bei Frauen verbessert werden. Sie haben öfter die schweren Ausfälle nach einem Schlaganfall und sind auch schlechter versorgt, weil ihre Partner meistens tot sind. Männer haben häufig das Glück, dass sie Frauen zuhause haben, die sich um sie kümmern, während Frauen häufig alleine sind.

Cécile Calla,
Nachdruck aus Medusablätter (Blog) –
mit freundlicher Genehmigung von Autorin Cécile Calla, Berlin


https://www.medusablaetter.com/2019/09/02/vera-regitz-zagrosek-die-gender-medizin-nützt-beiden-geschlechtern/
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