Schmerzen können die unterschiedlichsten Ursachen und Auslöser haben: organische Erkrankungen, aber auch psychische Befindlichkeiten, Stress, Arbeits- und Lebenssituation. Sie sind Psychologin und mit diesem speziellen Zugang zur Thematik haben Sie vor allem den viszeralen Schmerz, zum Beispiel beim Reizdarmsyndrom, im Blick ...
Prof. Elsenbruch: Um es voranzustellen – eine so richtig gute Erklärung für die Schmerzentstehung speziell auch im Magen-Darm-Trakt und beim Reizdarmsyndrom und deren mehr oder minder starke Wahrnehmung gibt es noch nicht! Aber ich kann sagen, die Wissenschaft ist unterwegs ... Wichtig ist, dass sich dieses Themas interdisziplinär angenommen wird – nicht nur durch Gastroenterologen, sondern ebenso im Blickfeld von Psychologen und Soziologen ist. Warum das so sein muss, erklärt sich aus der Spezifik der Beschwerden, die im übrigen nicht nur die Betroffenen stark belasten. Zur Beeinträchtigung der Lebensqualität und zum hohen Leidensdruck der Patient/innen kommen viele Krankschreibungen, immer wiederkehrende Behandlungen und damit ein nicht unbeträchtlicher Anteil an den Gesundheitskosten.
Nehmen wir das Reizdarmsyndrom: Eine organische Erkrankung oder jegliche Gewebeschäden lassen sich sehr häufig nicht finden, nichtsdestotrotz leiden die Betroffenen an starken und häufig wiederkehrenden Bauchschmerzen, Durchfall oder auch schmerzhafter Obstipation. Man kommt nicht umhin, komplexe Zusammenhänge wahrzunehmen.
Und da gibt es einen relativ neuen Denkansatz: Das Gehirn, auch die Psyche nicht getrennt zu sehen vom übrigen Körper und seinen Organen, sondern als ein Teil davon. Alles, was sie ausmacht und empfindet, ist extrem verbunden mit körperlichen Prozessen, denken wir nur an Herzrasen bei Schreck oder Stress, Bauchgrimmen und Durchfall vor Prüfungen oder auch die Schmetterlinge im Bauch vor einem ersten Date. Wer kennt das nicht! Wir sprechen inzwischen von der Gehirn-Darm-Achse, quasi dem Kommunikationsweg zwischen diesen Bereichen unseres Körpers. Dabei entstehen Interaktionen, die für unsere Gesundheit und Befindlichkeit sehr wesentlich sind.
Das Reizdarmsyndrom, so die Statistik, tritt bei Frauen doppelt so häufig auf wie bei Männern. Gibt es, nicht zuletzt aus Ihrer Sicht als Psychologin, Erklärungen dafür?
Prof. Elsenbruch: Auch hier setze ich erst einmal voraus: Wir brauchen mehr Forschungen dazu, um die Frage wissenschaftlich belegt zu klären, warum Frauen etwa doppelt so häufig darunter leiden wie Männer. Aber eine wichtige These dazu ist eben, dass dieses Syndrom vor allem bio-psycho-sozial zu erklären ist. Dieses Schmerzmodell kennen wir Psychologen schon länger: keine Trennung von „körperlich“ und „psycho-sozial“, das heißt auch, dass im weitesten Sinne die Lebenswirklichkeit der Betroffenen eine wichtige Rolle bei der Entstehung, Bewertung und Bewältigung vom Schmerzen spielt. Wir haben nicht zuletzt festgestellt, dass Erziehung und Prägung mitentscheidend sind. Ein Indianer kennt keinen Schmerz, das trifft auf Jungen zu. Heulsusen – das sind auf jeden Fall Mädchen. Männer, die über Schmerzen klagen, sind ganz schnell „Jammerlappen“, und Frauen, die sich das verkneifen, stehen es durch „wie ein Mann“ – Rollenbilder, die über einen langen historischen Zeitraum entstanden sind und heute noch wirken.
Tatsächlich gibt es Geschlechterunterschiede, die auf psycho-soziale Faktoren – Erziehung, Rollenmodelle –, aber auch auf biologische Unterschiede – in der Genetik, in den Hormonen – zurückzuführen sind. Beides spielt sicher eine Rolle, wenn wir von der unterschiedlichen Schmerzwahrnehmung, der Intensität des empfundenen Schmerzes, sprechen. Auch ist beispielsweise gut belegt, dass Frauen bei Beschwerden mit höherer Wahrscheinlichkeit professionelle Hilfe in Anspruch nehmen und mit größerer Wahrscheinlichkeit vom Schmerz als ein belastendes Symptom berichten. Viele Patientinnen mit Reizdarm leiden auch unter Ängstlichkeit oder Depressivität. Wir wissen nicht genau, warum das so ist, es kann auch Folge der andauernden Belastung durch die Symptome sein. Und Patienten mit Reizdarmsyndrom berichten zudem oft, dass ihr Leiden bei Stress oder psychischer Anspannung schlimmer wird.
Diskutierenswert – unterschiedliche Ergebnisse zeigen sich auch dann, wenn Frauen durch männliche Ärzte/Therapeuten betreut werden bzw. Männer durch weibliche. Möglicherweise kommen althergebrachte Geschlechterklischees zum Tragen – oder? Auch an dieser Stelle muss ich noch einmal sagen: Viele Prozesse auch im Geschlechtervergleich haben wir noch nicht vollends durchdrungen.
Der Behandlung des Schmerzes wird in den letzten Jahren generell mehr Aufmerksamkeit geschenkt, Schmerzpraxen, Schmerzkliniken und -zentren entstanden. Aber ist der Eindruck richtig, dass die Geschlechtsspezifik des Schmerzes noch nicht ausreichend wahrgenommen wird?
Prof. Elsenbruch: Richtig ist auf jeden Fall, dass die Thematik in der Lehre – zum Beispiel in debCurricula – noch zu wenig Raum einnimmt. Sie hinkt den Erkenntnissen der Wissenschaft leider hinterher, gerade auch was die besprochene Gehirn-Darm-Achse betrifft. Im Fokus stehen in den genannten Zentren bislang zumeist Rücken- oder Kopfschmerzen und kaum das Reizdarmsyndrom.
Ich bin aber sicher, dass sich das in den nächsten Jahren ändern wird. International gibt es viele Forschungsarbeiten dazu, wir tauschen uns in Arbeitskreisen – auch in der Deutschen Schmerzgesellschaft – aus. Und wenn beim Schmerzkongress ein solches Thema auf dem Programm ansteht, ist der Saal voll. Das lässt hoffen, auch im Interesse der Betroffenen! Sicher ist, dass sich wirkungsvolle Therapien auch in Bezug auf das Reizdarmsyndrom vor allem dann finden lassen, wenn auch die Unterschiedlichkeit der Geschlechter in Betracht gezogen wird.
Das Interview führte
Annegret Hofmann
Annegret Hofmann