„Meine Pille, deine Pille, viele Pillen — Multimedikation ist vor allem im Alter ein Problem“

Interview
13.11.2019
Die Epidemiologin Dr. Marjan van den Akker hat, von der Universität Maastricht kommend, seit März 2019 die Stiftungsprofessur Multimedikation und Versorgungsforschung  am Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt/Main inne. Ihr Schwerpunkt ist die Multimedikation vor allem bei älteren Patienten und was zu tun ist, um deren oft schwere Folgen zu vermeiden. Wir sprachen mit ihr.

Multimedikation berührt die Gendermedizin gleich mehrfach: Medikamente haben bei unterschiedlichen Menschen und unterschiedlichen Geschlechts oft sehr unterschiedliche Wirkung ... Im Alter ist das besonders gravierend, wenn vier, fünf oder mehr Medikamente gleichzeitig eingenommen werden.

Prof. van den Akker: Das kennt ja jeder. Nimm doch diese Tablette, wenn du Schmerzen hast, die hilft bei mir immer ... Das kann fatale Folgen haben. Wir wissen zudem, dass die Prozesse der Pharmakokinetik und -dynamik, der Aufnahme und Verteilung sowie Umsetzung eines Arzneimittels im Körper, bei Frauen und Männern unterschiedlich verlaufen. Unterschiede gibt es auch in der Wasser-Fett-Verteilung, bei der Plasma-Eiweiß-Bindung oder bei den Metabolisierungsvorgängen. All diese Dinge müssen bei der Dosisanpassung berücksichtigt werden, also nicht allein: Mann ist größer und schwerer, braucht mehr ... Hier gibt es noch viele Erkenntnislücken, sowohl in der Forschung wie vor allem auch bei den Anwendern.
Unser Forschungsvorhaben widmet sich deshalb vor allem der Herausforderung, dass sich bei allen ein Bewusstwerden dieser Problematik vollzieht.
Ein weiteres Problem ist es, dass viele Medikamente schon seit langem auf dem Markt sind. Wie sie auf ältere Menschen oder solche unterschiedlichen Geschlechts wirken, ist weitgehend unbekannt. Dem wollen wir mit breiten vergleichenden Studien abhelfen und auf diese Weise aktuelle Erkenntnisse gewinnen.

Besonderes Augenmerk lag in der Vergangenheit oft auf dem Problem der Unter-, Über- und Fehlversorgung von Frauen. Denken wir zum Beispiel an die Überdosierung von Betablockern bei Frauen. Sie weisen aber auch auf Probleme der Lebensumstände älterer Männer hin, die stärker berücksichtigt werden sollten. So sind allein lebende Männer besonders gefährdet, weil sie oft Gefahr laufen, die Übersicht über einzunehmende Medikamente zu verlieren ...

Prof. van den Akker: Wir haben es bei Fragen der Compliance ja sehr oft mit dem Problem des sozialen Umfeldes, der Lebensumstände der Patient/innen zu tun, das wurde in der Vergangenheit oft nicht so gesehen. Und ja, wir haben festgestellt, dass eine solide Einnahme von Arzneimitteln in einer Partnerschaft besser funktioniert.. Wenn Menschen therapieuntreu sind, zeigt uns das möglicherweise auch, dass der Arzt-Patienten-Kontakt in dieser Beziehung nicht funktioniert. Ein wichtiger Ansatz, der stärker berücksichtigt werden muss.

Hier sind wir bei der notwendig werdenden wachsende Rolle des Hausarztes auch in Bezug auf die sachgerechte medikamentöse Versorgung.

Prof. van den Akker: Aus unserer Sicht spielen Hausärzt/innen die entscheidende Rolle in der Behandlung älterer Patient/innen, und das natürlich auch mit Blick auf die medikamentöse Versorgung. Sie schätzen die physische und kognitive Situation des Patienten ein und treffen auf dieser Basis Entscheidungen bezüglich der Therapien. Dazu bedürfen sie einer Fülle von Informationen zum Beispiel auch über Medikamente und deren – wenn vorhanden – unterschiedliche Wirkweise bei Männern und Frauen. Wir haben in Holland gute Erfahrungen gemacht, wenn es gelang, wichtige Fachartikel relativ zügig ins Niederländische zu übersetzen und in für Ärzte gut zugänglichen Medien zu veröffentlichen. Nicht jeder Arzt in der Niederlassung hat Zeit und Möglichkeit, sich in die englischsprachige Fachliteratur zu vertiefen. Die Hürden für eine qualitativ sehr gute Fachinformation müssen niedriger werden, ich denke, dass müsste auch in Deutschland möglich sein.

In diesem Zusammenhang plädieren Sie auch dafür, dass Ärzte und Apotheker enger zusammenarbeiten sollten.

Prof. van den Akker: Das liegt im ureigenen Interesse der Patient/innen! Diese interprofessionelle Zusammenarbeit muss schon im Studium beginnen, beim interprofessionellen Lernen. Wer es gewohnt ist, wird das im Berufsalltag ganz selbstverständlich fortsetzen. Im Übrigen denke ich, dass auch die Elektronische Gesundheitskarte, die ja Schritt für Schritt eingeführt wird, hier eine bessere Koordination der Gesundheitsberufe hervorbringen. Nicht zu vergessen auch eine bessere Kommunikation mit dem Patienten, der Patientin. Und wenn auf dieser Grundlage Medikationspläne erstellt, gemeinsam mit dem Patienten, eventuell auch mit dem Apotheker regelmäßig besprochen und aktualisiert werden, haben wir einen wichtigen Schritt zu einer patientenorientierten medikamentösen Versorgung getan.
In diesem Zusammenhang ist mir auch das neue „Forum Multimorbidität und Multimedikation“ in Frankfurt wichtig, das ab dem kommenden Jahr Ärzte, Apotheker und Patienten umfassend informieren wird.

Das Gespräch führte Annegret Hofmann
Mehr zum Thema