Verena Muntschick studierte Germanistik, Anthropologie und Biologie. Seit 2014 arbeitet sie am Zukunftsinstitut (Frankfurt/Main, Wien) als Projektmanagerin, Researcherin und Autorin. Ihre Arbeiten befassen sich u. a. mit der Zukunft von Gesundheit. Sie sagt: In der Zukunft werden die Geschlechterrollen und die sozialen Rollen, die damit verbunden sind, an Bedeutung verlieren. Wir fragten sie: Keine Chance für die Gendermedizin?
Die von Ihnen und Ihren Kolleg/innen durchgeführte Studie zum Gendershift, also dem Wandel der sozialen Geschlechterrollen, kommt zu dem Schluss, dass sich diese sozial determinierten Geschlechterrollen auflösen werden. Frauen ergreifen herkömmliche Männerberufe, Männer finden sich zunehmend in ausgeprägten sozialen Berufen, die traditionell weiblichen Eigenschaften wie Empathie und Sozialkompetenz zugeschrieben wurden. Die immer noch recht junge Wissenschaft der Gendermedizin könnte damit ad absurdum geführt werden – geht es doch dabei gerade um die nachweisbaren biologischen Unterschiede zwischen Frauen und Männern und deren Nutzung ...
V. Muntschick: Viele Beispiele aus unserer Gegenwart zeigen es ja schon: Soziale Rollen verflüssigen sich. Aus unserer Sicht ist dies der Beginn eines längeren gesellschaftlichen Prozesses. Der Genderansatz kann dabei ein Weg, ein möglicher Zwischenschritt sein, um präziser in der Definition von gesellschaftlichen Strukturen zu werden. Man wird mit den hier gewonnenen Erkenntnissen zu der Unterschiedlichkeit der Menschen letztlich noch besser auf das Individuum eingehen können. Wichtig ist, dass überhaupt differenziert wird.
Sie sprechen in diesem Zusammenhang von der Bedeutung der Lebensstile als Unterscheidungsmerkmal. Auch die Gendermedizin sieht ja nicht nur die biologischen, genetischen Komponenten, sondern dies möglichst im sozialen Kontext, in dem sich eine Person befindet. All dies sind Faktoren für ihre auch gesundheitliche Verfassung...
V. Muntschick: Hier wie dort wird gefragt – um was für einen Typ Mensch handelt es sich, wie ist seine, ihre individuelle Verfassung, wodurch wird seine, ihre soziale Rolle definiert, wie ist die Erwartungshaltung der Gesellschaft. Das sind ziemlich komplexe Ansätze. Nur so gelingt es ja, so konkret wie möglich auf das Individuum einzugehen – in Bezug auf seine gesundheitliche Situation und eine entsprechende Versorgung wie auch in anderen Bezügen, z. B. bei der Berufswahl oder auch, und in diesem Feld bewegen wir uns als Zukunftsinstitut ja auch, bei wirtschaftlichen Entscheidungen.
In der Medizin werden die Möglichkeiten einer ganz individuellen personalisierten Medizin nach anfänglicher Euphorie mittlerweile etwas skeptischer gesehen, nicht zuletzt aus finanziellen Gründen. Beurteilen Sie das auch so?
V. Muntschick: Wie schon gesagt, wir untersuchen Trends. Diese orientieren sich an längeren Zeiträumen. Bei den Megatrends sprechen wir beispielsweise von einem Zeitraum von bis zu 40 Jahren. Ich denke aber, dass stark individualisierte Diagnosen und Therapien gar nicht mehr so lange auf sich warten lassen. Die Möglichkeiten dazu verbessern sich rasant, und das wird dann auch die Kosten insgesamt senken. Gendermedizinische Forschungsergebnisse und neue Fakten zur Unterschiedlichkeit der Geschlechter sind dann hilfreich, wenn sie nicht althergebrachte Klischees der Unterschiedlichkeit verstärken, sondern wenn sie neue Möglichkeiten eröffnen, einen differenzierteren Blick auf die individuellen Konstitutionen von Menschen zu werfen und die individuellen Stärken von Männern wie Frauen nutzen. Beim Bewusstmachen dessen kann die Gendermedizin auf dem Weg zu einer individuellen personalisierten Medizin noch viel leisten, nicht nur in Bezug auf eine bessere und gezielte medizinische Versorgung.
Ganz aktuell sind auch die Ergebnisse der Health Trends Studie, in der Sie, vergleichbar mit der Begrifflichkeit Wohlbefinden der WHO, „Gesundzufriedenheit“ als Ziel individueller und damit auch gesellschaftlicher Bemühungen benennen. Haben Sie dabei auch die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Männern und Frauen ins Kalkül gezogen?
V. Muntschick: Ich denke, auch hier spielen Erkenntnisse der Gendermedizin mit hinein. Wir haben uns ausführlich mit individuellem Gesundheitsverhalten auseinandergesetzt. Und hier wissen wir inzwischen, dass es Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt. Diese führen aber auch z. B. zur Festschreibung des Mannes als „Vorsorgemuffel“ und der Frau als derjenigen, die Gesundheitsangebote eher nutzt. Wenn dies so ist, müssen sich die Methoden ändern. Eigenverantwortung für Gesundheit als Gebot – auch hierfür bedarf es zielgruppenorientierter Angebote, die auf individuelle Lebensstile und Interessen zugeschnitten sind und Männer wie Frauen gleichermaßen ansprechen.
Ich könnte mir gut vorstellen, dass Trendforschung, Gesundheitspolitik wie auch z. B. Gendermedizin gut zusammenwirken sollten, wenn es um Entwicklungen und Angebote für die Menschen in die Zukunft hinein geht. Das geschieht aus meiner Sicht noch so gut wie gar nicht.
Das Gespräch führte Annegret Hofmann.