Sie fordern als Medizinethikerin Ihre Kolleg/-innen auf, den Blick zu schärfen für eine geschlechtsspezifsche Medizin. An welche Aufgabenbereiche denken Sie dabei besonders?
Prof. Gadebusch Bondio: Anders als in klinischen Bereichen der Medizin, etwa in der Kardiologie oder Pharmakologie, in denen evident ist, dass gendersensible Prävention sowie geschlechterspezifische Diagnostik und Therapie eine Notwendigkeit sind, ist das Verhältnis von Medizinethik und geschlechterbezogenen Fragen nicht so offensichtlich. In drei Bereichen sind meiner Meinung nach Medizinethik und geschlechts- bzw. genderbezogene Aspekte miteinander verwoben: in der medizinischen Forschung, in der ärztlichen Ausbildung und im klinischen Alltag – dort wo es um Chancengleichheit geht.
Forschungsethikkommissionen haben die Aufgabe, darauf zu achten, dass die Qualitätsstandards der guten wissenschaftlichen Praxis in der medizinischen Forschung respektiert werden. Ich denke dabei z. B. an eine Verbesserung der Datenqualität bei Studien durch Berücksichtigung von Genderunterschieden bei den Prüfphasen von Medikamenten. Das beginnt bereits bei den präklinischen Tierversuchen und der Frage, ob man die Versuche an männlichen oder weiblichen Versuchstieren durchführt Dies gilt auch für das Arbeiten mit so genannten „permanenten“ menschlichen Zelllinien in der Zellkultur. Es müsste m.E. der Ursprung der Zelllinien bzw. das Geschlecht des Spenders hinterfragt und bei der Auswertung berücksichtigt werden.
So kann Medizinethik geschlechterspezifische Themenfelder im eigenen Unterricht integrieren, z.B. durch die Behandlung von Fragen der Geschlechtergerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung oder des Selbstverständnisses von Ärztinnen und Ärzten angesichts vorhandener oder fehlender Vorbilder. Sie kann aber auch dazu beitragen, durch interdisziplinäre Veranstaltungen mit anderen medizinischen Fächern diese nur punktuell repräsentierten Aspekte in die Lehre zu implementieren – z.B. durch Ringvorlesungen, Team-Teaching etc. Zum dritten Feld, das die Karrierechancen von Medizinerinnen und Medizinern sowie die Qualität des ärztlichen Lebens betrifft, kann die Medizinethik, die sich bemüht, das „Gute“ und „Gerechte“ bei jeder Entscheidung im medizinischen Kontext zu definieren, zu prüfen, zu beachten und zu fördern, Einiges tun. Zwar stehen die betroffenen Patientinnen und Patienten im Zentrum des Interesses der klinischen Medizinethik, doch um ihnen gerecht zu werden, braucht es „gute“, d.h. auch gesunde und glückliche , Ärztinnen und Ärzte. Dadurch gewinnen die Arzt-Patienten-Beziehung und auch das Gesundheitssystem insgesamt an Qualität.
Nehmen wir die Medikamente: Sie haben darauf hingewiesen, dass immer wieder Medikamente vom Markt genommen werden müssen, weil sie nicht an bestimmten Gruppen – und hierfür stehen die Frauen – getestet wurden. Können Sie das näher erläutern?
Prof. Gadebusch Bondio: Trotz Zusagen der Pharmaindustrie, Medikamente unter Einbeziehung weiblicher Testpersonen zu prüfen, zeigt sich immer wieder, dass dies noch nicht Realität ist. So mussten Medikamente vom Markt genommen werden, weil Nebenwirkungen und unerwünschte Ereignisse bei Frauen auftraten. Offenbar werden die Tests immer noch vorwiegend bei Männern vorgenommen. Es beginnt bereits mit präklinischen Tierversuchen, die der Untersuchung an Menschen vorangehen. Hier überwiegt nach wie vor die Zahl der männlichen Labortiere. Dies hat ökonomische, und mentalitätsbezogene Ursachen. Weibliche Tiere werden traditionell für die Reproduktion und männliche für Experimente vorgesehen. Spielen für die zu erforschende Fragestellung geschlechtsbedingte Unterschiede keine Rolle, erübrigt sich die Repräsentanz der zwei Geschlechter bei den Experimenten…
Auch in den frühen Prüfphasen werden Medikamente weitaus häufiger an Männern getestet (Phase 1 an gesunden Probanden: toxikologische Studien und Prüfung von Sicherheit und Toleranz; Phase 2: Erstanwendung an Kranken).
Mittlerweile fehlt es nicht an Ergebnissen: Post-hoc-Analysen zeigen, dass sich bei Frauen mit Herzinsuffizienz die Mortalitätsrate erhöht und sie eine verminderte linksventrikuläre Funktion unter Digoxin-Behandlung aufweisen, was wahrscheinlich auf eine für Frauen zu hohe Dosierung zurückzuführen ist (Rathore et al. 2002). Auch eine höhere Frakturrate bei Frauen nach der Menopause konnte unter Glitazontherapie festgestellt werden (Habib et al. 2010).
Warum fehlt das Interesse für Geschlechterunterschiede in der Prüfung von Medikamenten?
Prof. Gadebusch Bondio: Eigentlich hatte die amerikanische FDA (Lebensmittelüberwachungs- und Arzneimittelzulassungsbehörde) seit Beginn der 1990er Jahren die pharmazeutischen Firmen aufgefordert, bei der Arzneimittelentwicklung Patienten beiderlei Geschlechts einzubeziehen und nach signifikanten Unterschieden bei Wirksamkeit und Verträglichkeit zu suchen. Seitdem weiß man, dass geschlechtsspezifische Merkmale in klinisch-pharmazeutischen Studien beachtet werden sollten. Seit 2004 (12. AMG Novelle) gehört es auch in Deutschland zu den Regeln guter klinischer Praxis, dass bei Anträgen auf Genehmigung einer klinischen Prüfung eine angemessene Geschlechterverteilung berücksichtigt wird. Doch die Umsetzung dieser geschlechtergerechten Prüfung von Arzneimitteln wird – so scheint es – von der Pharmaindustrie umgangen.
In den meisten Publikationen von Medikamenten-Interventionsstudien fehlen direkte Vergleichsanalysen zwischen Männern und Frauen bezüglich Effektivität und Sicherheit. Eine neuere Metaanalyse (Gartlehner et al 2010) über die Ergebnisse von Studien, in denen Unterschiede in Sicherheit und Wirksamkeit von Medikamenten untersucht wurden, zeigt, dass wenige geschlechtsspezifische Unterschiede bei verschiedenen Substanzklassen gefunden wurden. Unbestritten ist dies aber bei der Verstoffwechslung von neuen Antiemetika, Antidepressiva und Statinen der Fall, hier sind relevante Unterschiede zwischen Frauen und Männern beobachtet worden. Dies lässt den Schluss zu, dass die Datenqualität unzureichend ist und, dass die Erhebung von geschlechterspezifischen Unterschieden in die Studien dringend integriert werden muss!
Den Ethikkommissionen kommt eine wichtige Aufgabe in Bezug auf neue Ziele und Forschungsinhalte zu. Ethikgremien gibt es inzwischen auch in Krankenhäusern. Sind diese nach Ihren Erfahrungen schon auf die neuen Aufgaben durch eine geschlechtsspezifische Medizin eingerichtet bzw. was müsste unter diesem Gesichtspunkt „vor Ort“ getan werden?
Prof. Gadebusch Bondio: Es kann nicht bestritten werden, dass die Berücksichtigung von Geschlechterdifferenzen bei klinischen Studien aufwändiger und mit höheren Kosten verbunden ist, aber bessere, präzisere Daten produziert. Diese höhere Investition in der Forschung kann wiederum – auf längere Sicht – zu Ersparnissen in der Gesundheitsversorgung führen, denn gezielte, individuell bestimmte Therapien sind in der Regel erfolgversprechend und mit geringen Nebenwirkungen verbunden. Konkret würde diese Anforderung, die mit einem Mentalitätswandel in der klinischen Forschung einher gehen sollte, implementierbar sein, wenn z.B. forschungsfördernde Instanzen die Berücksichtigung dieser Aspekte im Forschungsdesign begrüßen und dementsprechend fördern würden.
Die Aufgabe der Medizinethik und der entsprechenden Kommissionen müsste es sein, mit geschärftem Blick auf das Studiendesign zu achten und im Zweifelsfalle nachzufragen, warum die Erhebung von Geschlechtsunterschieden vernachlässigtwird . Man könnte sich auch vorstellen, dass Antragstellerinnen und Antragssteller selbstverständlich Fragen nach der Geschlechterdifferenz in das Design ihrer Studie integrieren. Ganz unabhängig davon, ob es sich um die Entwicklung einer Therapie bei Patienten mit Kolonkarzinom handelt oder ob es um die Frage nach deren Lebensqualität geht. Es müsste immer wieder die Frage gestellt werden, ob sich Unterschiede bei Patientinnen und Patienten feststellen lassen und worin sie bestehen .
Wie kann es gelingen, die neuen Erkenntnisse, die sich durch eine geschlechtsspezifische Medizin – als Bestandteil einer individualisierten Medizin – ergeben, durchzusetzen? Dabei genügt es sicher nicht, nur die Fachleute, die Expert/innen in Forschung und Medizin einzubeziehen?
Prof. Gadebusch Bondio: Wir brauchen mehr Informationen, mehr Fakten und vor allem gut ausgebildete Ärztinnen und Ärzte für die Durchsetzung einer geschlechterspezifischen Medizin, wodurch Frauen und Männer profitieren werden!
In der Aus- und Fortbildung müssen die neusten Erkenntnisse der Gender- und individualisierten Medizin miteinander verbunden werden. Das heißt auch, dass Patientinnen und Patienten darüber informiert werden und so den Nutzen erkennen, wenn ihnen geschlechtsspezifische Angebote im Rahmen von Vorsorge, Prävention und Therapie gemacht werden.
Wir haben an der Technischen Universität München eine von zwei Kolleginnen – Dr. Barbara Cramer und PD Dr. Janine Diehl-Schmid – und mir initiierte Ringvorlesung „Wissenschaft | Geschlecht | Medizin“ veranstaltet, die thematisch Schnittstellen von Wissenschaft, Geschlecht und Medizin aus mehreren Perspektiven beleuchtet. Die Teilnehmer/innen waren diskussionsfreudig, sehr interessiert und motiviert. Das ist auch ein Anfang, wenngleich er aus meiner Sicht natürlich nicht ausreicht. Mit dem Sammelband >Gendermedizin< Krankheit und Geschlecht in Zeiten der individualisierten Medizin, den ich zusammen mit der Herzchirurgin Elpiniki Katsari herausgebe, hoffe ich, dass die darin entwickelten Denkanstöße auf einen fruchtbaren Boden fallen!