„Ich vermisse immer noch eindeutige Vorgaben zur Geschlechterspezifik bei Studien und Forschungsprojekten. Die sollten inzwischen eigentlich Grundvoraussetzung für wissenschaftliche Arbeiten in der medizinischen Forschung sein“, meint Prof. Dr. Verena Stangl. Die Leitende Oberärztin der Medizinischen Klinik und Poliklinik mit Schwerpunkt Kardiologie und Angiologie an der Berliner Charité ist Referentin beim Internationalen Kongress für Geschlechterforschung in der Medizin am 22./23. September in Berlin. Ihr Thema: Gender-Aspekte in der kardiologischen Praxis
Sie führen Weiterbildungsveranstaltungen für niedergelassene Ärzte durch, haben eine Herz-Sprechstunde für Frauen, vor allem für Schwangere. Ein Bedarf für beides ist offensichtlich vorhanden?
Prof. Stangl: Trotz neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, trotz vieler Informationen in Fachmedien und Öffentlichkeit: Gerade in der Umsetzung der neuen Forschungsergebnisse in der täglichen Versorgungspraxis gibt es noch viel zu tun. Seit 2002 bieten wir aus unserer Klinik heraus Weiterbildungsveranstaltungen für niedergelassene Ärzte an, die solche Fragestellungen für die kardiologische Praxis aufbereiten. In die Frauen-Herzsprechstunde kommen Patientinnen nicht nur aus Berlin, sondern aus einem weiten Umkreis, das zeigt den Bedarf und die Notwendigkeit, hier noch mehr zu tun. Das betrifft auch dringend notwendige Studien und Forschungsarbeiten.
Über eine aktuelle Studie werden Sie beim Kongress berichten?
Prof. Stangl: Ich stelle die Ergebnisse einer umfassenden Meta-Analyse vor, die die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der inzwischen fast routinemäßig durchgeführten Methode des – nichtoperativen - Aortenklappenersatzes per Katheter beleuchtet. Diese TAVI-Methode wird vorzugsweise bei hochbetagten Patientinnen und Patienten angewandt, wo sie, weil weniger belastend, zu guten Erfolgen führt. Frauen und Männer waren in diesen Studiengruppen zu ungefähr gleichen Teilen vertreten. In der Gesamteinschätzung konnten wir feststellen: In der Behandlung mit TAVl gibt es Hinweise für einen signifikant höhere Gesamtüberlebensvorteil für die Frauen. Weitere Details werden zeigen, welche Konsequenzen bezüglich der Therapie man daraus ziehen kann – für beide Geschlechter.
Teilnahme an Studien ist für Frauen und Männer gleich wichtig
Gleiche, vergleichbare Teilnahme von Frauen und Männern an Studien, wie in der eben beschriebenen – das ist immer noch ein Problem?
Prof. Stangl: Leider ist das so. Es gibt inzwischen natürlich entsprechende Festlegungen von den einschlägigen Institionen, aber in der Praxis treffen wir immer noch auf Studien, die dies nicht einhalten – und das führt dann zu verzerrten Ergebnissen. Ich denke, wir sollten auch die Öffentlichkeit noch mehr sensibilisieren. Die Teilnahme an Studien ist für Männer und Frauen wichtig, wenn wir Krankheiten besser erkennen und auch die Therapie zielgerichtet durchführen wollen.
Studien mit Patientinnen und Patienten sind das eine, Forschungen, die viel früher ansetzen, sind eine weitere Möglichkeit, Geschlechtsspezifik zu erkennen...
Prof. Stangl: Eine interessante Möglichkeit hat sich für die cardiovaskuläre Forschung aus der Untersuchung von Nabelschnurzellen ergeben, die uns von den Geburtskliniken zur Verfügung gestellt werden können. Während beim Embryo, beim heranwachsenden Kind im Mutterleib aus hormoneller Sicht noch kein Unterschied zwischen den Geschlechtern nachweisbar ist, ist dies bei den Zellen durchaus der Fall. Dass weibliche Neugeborene ein stabileres Immunsystem haben, dass weibliche Zellen besser Verbindungen miteinander eingehen können, dass Wundheilungen besser verlaufen – viele offene Fragen werden beantwortet werden können. Auf solche genetisch begründeten Unterschiede zwischen Frauen und Männern wird zukünftig mehr wissenschaftliches Augenmerk gelegt werden. Ein spannendes Forschungsfeld, das ganz sicher zu weiteren praxisrelevanten Erkenntnissen führt.