Gendermedizin braucht Unterstützung der Politik

Dr. med. Gesine Dörr ist Chefärztin der Klinik für Innere Medizin am St. Josefs-Krankenhaus Potsdam-Sanssouci. Der Internistin mit Schwerpunkt Kardiologie/Angiologie liegt die Gendermedizin am Herzen, deshalb auch ihr Engagement für das Netzwerk Geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung im Land Brandenburg. 

Achten Sie auf Ihre Gefäße – eine Aufforderung, die zum Tag der Gefäßgesundheit, der gerade wieder einmal hinter uns liegt, von Expert/innen wie Ihnen immer wieder in die Bevölkerung hineingetragen wird. Wie ist auf diesem Gebiet der wissenschaftliche Stand in Bezug auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede?

Dr. Dörr: Das Thema selbst ist so komplex wie die Rolle der Gefäße in unserem Körper. Sie sind bei Herzinfarkt und Schlaganfall ebenso involviert wie z.B. bei Krampfadern und Schaufensterkrankheit. Das heißt auch, dass Gefäßerkrankungen nicht nur von Angiologen diagnostiziert werden, sondern in großem Maße auch Fächer der Inneren Medizin wie Kardiologie und Diabetologie, aber auch Neurologie oder Dermatologie betreffen. Ganz abgesehen von der Allgemeinmedizin ... Und wie bei anderen Erkrankungen auch, spielen bei Ursachen und Symptomen, Häufigkeit und Ausprägung geschlechtsspezifische Unterschiede und Besonderheiten eine Rolle. Dass es die gibt, ist unbestritten – und glücklicherweise kommen auch hier zunehmend neue Erkenntnisse. Noch vor zehn Jahren beklagte die Deutsche Gesellschaft für Angiologie diesbezüglich große Defizite in der Forschung wie auch in der ärztlichen Wahrnehmung.
Frauen litten häufig an Gefäßerkrankungen, würden allerdings weniger intensiv diagnostiziert und therapiert als Männer, hieß dazu 2005 im Deutschen Ärzteblatt. Hier hat sich zweifellos einiges geändert. Zumindest gibt es in Teilgebieten, wie z. B. der Kardiologie oder auch der Diabetologie, Fortschritte und eine ganze Reihe wichtiger wissenschaftlicher Arbeiten zur Geschlechtsspezifik. Ich denke aber auch, in der praktischen Anwendung solcher Erkenntnisse könnten wir ein rascheres Tempo vorliegen.

Zahlen über unterschiedliche Häufigkeiten des Auftretens von bestimmten Erkrankungen bei Männern und Frauen erreichen uns immer öfter – mit welchen Konsequenzen für die Therapie von Gefäßerkrankungen?

Dr. Dörr: Mit noch zu wenigen. Es gibt gute und weniger gute Beispiele. In Sachen Herzinfarkt – unterschiedliche Symptome, aber auch die Notwendigkeit unterschiedlicher z. B. medikamentöser Therapien oder auch in der Rehabilitation – ist relativ viel bekannt, zumindest bei den Ärzt/innen. Warum aber erhalten Frauen weniger Koronarangiographien und auch weniger Bypässe als Männer und warum ist ihre Sterblichkeit nach einer solchen OP immer noch hoch? Ihr Anteil an entsprechenden Erkrankungen ist mindestens gleich oder im höheren Alter sogar höher ist als bei männlichen Patienten! Und weiter: Die zielgruppenorientierte Prävention bezüglich Gefäßerkrankungen ist noch in den Kinderschuhen bzw. manchmal wie „aus der Gießkanne“ mit dem Ergebnis, dass sie niemand richtig erreicht. Das betrifft Themen wie Ernährung und Bewegung, zwei wichtige Säulen, die viele Erkrankungen, nicht nur die der Gefäße, vermeiden helfen könnten.

Sie haben sich im vergangenen Jahr sehr engagiert dafür eingesetzt, dass ein Netzwerk Geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung im Land Brandenburg in die Startlöcher kam ...

Dr. Dörr: ... und ich hoffe sehr, dass es bald zum Laufen kommt! Wir haben viele wichtige Ansätze diskutiert. Eine breite Information für Laien und für Menschen im Gesundheitsbetrieb, neue Kooperationen und Erfahrungsaustausch, konkrete Projekte auf verschiedenen Gebieten. Immer mehr potenzielle „Mitspieler“ kommen auf uns zu. Wir wünschen uns die zugesagte politische Unterstützung, damit wir in die Breite wirken können. Weil geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung nicht nur Patientinnen und Patienten, sondern unserem gesamten Gesundheitssystem zugute kommt.

Mit Dr. Dörr sprach Annegret Hofmann