Der Deutsche Ärztinnenbund hat bei seinem Kongress 2015 drei junge Wissenschaftlerinnen geehrt, die mit ihren Arbeiten geschlechtsspezifische Aspekte von Erkrankungen und im Zusammenhang mit aktuellen Forschungen untersucht haben. Wie wichtig ist die Gendermedizin für die Arbeit des Ärztinnenbundes?
Dr. Groß: Sie ist zweifellos ein elementares Anliegen von Ärztinnen und auch des Ärztinnenbundes – und dies unter vielen Gesichtspunkten. Der DÄB hat dieses Thema schon sehr früh aufgegriffen, viele unserer Mitgliedsfrauen engagieren sich dafür in ihrem Fach und in ihrer Region. Dennoch: Obwohl die Erkenntnisse auf diesem Gebiet in den letzten Jahren enorm zugenommen haben und die Sinnhaftigkeit einer modernen Medizin, die zwischen den Geschlechtern differenziert, für jede und jeden offensichtlich sein sollte, gibt es aus meiner Sicht noch zahlreiche Defizite. Ich meine damit die unzulässige Ideologisierung des Begriffs Gendermedizin. Man muss sich dazu nur einmal im Internet die Äußerungen aus manchen Ecken anschauen, manchmal sind es auch ärztliche Kollegen, die sich ganz sicher noch nicht ausreichend informiert haben. Es bleibt also wichtig, die Grundlagen und Fakten einer geschlechterspezifischen Medizin immer wieder zu vermitteln.
Der Ärztinnenbund hat übrigens eine Anfrage an die deutschen medizinischen Fakultäten bezüglich „Gender in der Lehre“ gerichtet, das wird zeigen, wo wir mit Blick auf die Kenntnisse der nächsten Mediziner/innen-Generation stehen.
Sie sind als Psychotherapeutin tätig, ein weites Feld unter dem Gesichtspunkt der Gendermedizin...
Dr. Groß: ... und deshalb freue ich mich, dass gerade die Psych.-Fächer das Thema sehr offensiv aufgreifen. An der Uni Düsseldorf finden zum Beispiel seit 2010 regelmäßig Männerkongresse statt, die als ein wichtiges Thema auch die Depression des Mannes aufgreifen. Das Interesse ist groß, ebenso der Informationsbedarf. Unsere Fachgremien sind gefordert zu liefern, im Fall der Psych.-Fächer tun sie das auch bereits. Interessanterweise werden nach meinen Beobachtungen Veranstaltungen, die sich vor allem mit Männergesundheit befassen, gleichermaßen von Ärztinnen wie von männlichen Kollegen besucht. Das ist leider bei den Veranstaltungen zur Frauengesundheit oder auch zur Gendermedizin generell noch nicht der Fall, da treffen wir vor allem Frauen. Aber auch hier verändert sich langsam die Haltung in der Ärzteschaft.
Die medizinische Versorgung wird mehr und mehr von Ärztinnen geprägt, aber in den Leitungsgremien sucht man sie oft noch vergebens. Das ist und bleibt, neben der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, eines der hauptsächlichen Themen des Ärztinnenbundes, wie Sie auch bei Antritt Ihres Amtes und beim Kongress im September 2015 betonten. Was ist vordringlich zu tun?
Dr. Groß: Hier ist es wie mit der Gendermedizin – der Prozess ist in Gang gekommen, nun muss das Tempo beschleunigt werden. Dies gilt sowohl, wenn es um die Ärztinnen in Leitungspositionen – also um Oberärztinnen und Chefärztinnen – geht, als auch wenn wir Ärztinnen in den berufspolitischen Gremien betrachten. Ich beobachte, dass erfreulicherweise auch viele männliche Kollegen der jüngeren Generation für dieses Thema zumindest sensibilisiert sind. Es tut sich also etwas, wobei ich nicht nachlasse, besonders junge Ärztinnen zu bestärken, leitende Positionen anzustreben und auch in den Berufsgremien mitzuwirken. Arbeit in den berufspolitischen Gremien bedeutet ja auch, den ärztlichen Beruf mitgestalten zu können oder auf Arbeitsbedingungen einzuwirken, damit dann wiederum Familie und Beruf besser zu vereinbaren sind. Letzteres ist übrigens auch für junge Kollegen mehr und mehr von Interesse.
Das Tempo bei diesen Prozessen werden auch die Arbeitsgruppen und Ausschüsse beschleunigen, die jetzt bei einigen Ärztekammern gegründet wurden und die entsprechende Vorschläge erarbeiten, um die Relationen zwischen Ärztinnen und Ärztinnen, die der tatsächlichen Situation der Geschlechterverteilung im Arztberuf entsprechen, zu erreichen. In der einen oder anderen Delegiertengruppe des Deutschen Ärztetages im Mai in Hamburg wird diese Entwicklung vielleicht schon erkennbar werden. Trotzdem wird das Thema in all seinen Facetten uns noch länger begleiten.
(Das Gespräch führte Annegret Hofmann.)