Hausärztinnen und Hausärzte sind im Alltag die ersten Ansprechpartner für die Patientinnen und Patienten. Gerade sie sollten deshalb mehr über Gendermedizin wissen, meint Dr. med. Natascha Hess. Die niedergelassene Kardiologin aus Berlin motiviert ihre Kollegen über einen Qualitätszirkel. Wir sprachen mit ihr.
Ist das Thema Gendermedizin bei den niedergelassenen Ärzten schon
angekommen?
Dr. Hess: Man kann durchaus vorsichtig optimistisch sein, dass bei vielen ein Interesse geweckt worden ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass der Zugang vor allem zunächst über Ärztinnen erfolgt. Wichtig ist mir festzustellen, dass zunehmend Kolleginnen wie Kollegen Erfahrungen aus ihrem praktischen ärztlichen Alltag heranziehen und die Erkenntnis gewinnen, dass eine individualisierte Medizin, und dazu zählt die geschlechtsspezifische Betrachtung, neue Erkenntnisse für Diagnostik und Therapie liefert. Es ist aber notwendig, dass wir ‚Pioniere’ in dieser Frage am Ball bleiben. Also mehr Gendermedizin in der ärztlichen Ausbildung, aber auch in der Fort- und Weiterbildung. Qualitätszirkel wie der unsrige tun ihr übriges.
Sie haben beispielhaft die Gendermedizin auf Ihrer Praxiswebsite dargestellt und dabei auch die KollegInnen nicht nur Ihres Fachs, der Kardiologie, sondern auch Orthopäden, Frauenärzte, Diabetologen, Hausärzte angesprochen. Derlei fachübergreifende Informationen sind noch nicht alltäglich...
Dr. Hess: Man muss dabei viel Geduld mitbringen, aber ich denke, es ist der Mühe wert. Es geht mir darum zu vermitteln, dass diese differenzierte Betrachtungsweise von Gesundheit und Krankheit Medizin effizienter, wirkungsvoller machen kann. Therapien können gezielter eingesetzt werden, wir haben letztlich zufriedenere Patientinnen und Patienten. Ich gehe davon aus, dass diese Erkenntnis um sich greifen wird.
Bei den niedergelassenen Kardiologen wurde eine Arbeitsgruppe Gendermedizin gegründet – mit welchem Ziel?
Dr. Hess: Es ist zunächst erfreulich, dass acht große kardiologische Praxen dieses Thema aufgegriffen haben, unterstützt auch vom Vorsitzenden des Berufsverbandes, Dr. Norbert Smetak. Zunächst soll eine Patientenbefragung ausreichende Daten ermitteln, damit über die aktuelle Versorgung von Patientinnen und Patienten Aussagen getroffen werden können. In meiner Praxis habe ich solche Daten schon erhoben. So ging es dabei z. B. um die unterschiedlichen Beschwerden im Vorfeld eines Herzinfarkts und darum, wie die Wege der Behandlung verliefen. Frauen wurden vorwiegend zunächst beim Hausarzt behandelt, Männer ließen sich schneller zum Facharzt überweisen.
Ist individualisierte Medizin ein Kostentreiber im Gesundheitssystem?
Dr. Hess: Ich denke, das Gegenteil ist der Fall, auch das versuche ich meinen KollegInnen – und letztlich auch Gesundheitspolitikern und Kassenvertretern – zu vermitteln. Die Kenntnis über Unterschiede bei den Geschlechtern, aber auch bei verschiedenen Altersgruppen und die genaue Kenntnis von Lebensgewohnheiten, Lebensstil kann beim einzelnen Patienten zu einer schnelleren, gezielteren und kostengünstigeren Diagnostik und Therapie führen. Ganz abgesehen davon, dass sich eine neue Art des Arzt-Patienten-Verhältnisses herausstellt, ein gemeinsames Therapiekonzept. Das ist auf jeden Fall kostensparend. Insofern ist Gendermedizin die Medizin des 21. Jahrhunderts.
Sie haben eingangs erwähnt, dass die ärztlichen Kolleginnen offener waren, wenn es um die geschlechtsspezifische Betrachtungsweise bei Gesundheit und Krankheit ging. Nun haben wir zukünftig mehr Ärztinnen im Beruf als Ärzte – gute Voraussetzungen für Gendermedizin?
Dr. Hess: Sicher ist das eine interessante Entwicklung, sie wird auch die Gesundheitsversorgung wesentlich mit beeinflussen. Immerhin wissen wir, dass Ärztinnen mehr als ihre männlichen Kollegen die sprechende Medizin bevorzugen. Es wird mehr Gewicht auf die Kommunikation gelegt. Das ist eine Entwicklung, die in der ärztlichen Ausbildung mehr beachtet werden sollte. Mir ist es aber wichtig zu betonen, dass Gendermedizin gute Medizin für jeden und jede bedeutet, und deshalb sind die Studien, die jetzt zur Männergesundheit vorliegen, ebenso relevant. Gendermedizin wird die Fragen beantworten müssen, warum Männer früher sterben, obwohl sie, wie z. B. in der Kardiologie, nach Studienlage die bessere Versorgung erhalten, ihre Infarkte früher und effizienter behandelt werden. Hier liegt ein großes Stück Arbeit vor uns.
Das Gespräch führte Annegret Hofmann,
anna fischer project