Kein Geld, keine Fakten? Geschlechtsspezifische Forschung muss besser ausgestattet werden

„Unsere Forschungen bleiben auf halbem Wege stehen, wenn keine Mittel bereitgestellt werden, um diese Projekte fortzuführen“ – das ist für die Psychiaterin Prof. Dr. med. Katarina Stengler, Klinik für Psychiatrie des Universitätsklinikums Leipzig, einer der Gründe, warum es immer noch wenige belastbare Daten zur geschlechtsspezifischen Medizin gibt.
afnews sprach mit der Ärztin, die auch die AG Geschlechtsspezifische Forschung beim Gleichstellungsbüro der Medizinischen Fakultät der Uni leitet.


Vor einiger Zeit hat die Medizinische Fakultät der Uni Leipzig einige Forschungsprojekte gestartet, die geschlechtsspezifische Analysen vor allem bei psychiatrischen Erkrankungen und in der Rehabilitation zum Inhalt hatten. Was ist daraus geworden?

Prof. Stengler: Diese Arbeiten sind zum großen Teil abgeschlossen, entsprechende Berichte liegen vor. Als Beispiel möchte ich eine geschlechtsspezifische Analyse von Fehlzeiten am Arbeitsplatz und Erwerbsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen nennen. Das war eine umfassende Literaturrecherche, auf deren Grundlage es natürlich notwendig wäre, praxisrelevante Strategien zu entwickeln. Wenn sich ergeben hat, dass Frauen häufigere und längere Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen hatten, Männer hingegen ein erhöhtes Risiko der Erwerbsunfähigkeit, so muss das Konsequenzen nach sich ziehen. Angesichts der bekannten Unterschiede in den sozialen, psychischen und biologischen Wirklichkeiten von Frauen und Männern ist es unumgänglich, sowohl in der Steuerung von Versorgungssystemen als auch in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Forschung geschlechterdifferenziert vorzugehen. Wir haben natürlich darauf hingewiesen, dass zukünftig geschlechtsspezifische Aspekte bei der Prävention von Fehlzeiten und Erwerbsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen am Arbeitsplatz stärkere Berücksichtigung finden sollten. Aber solche Hinweise in wissenschaftlichen Publikationen können natürlich letztlich nicht ausreichen, eine Weiterführung und letztlich Umsetzung in die Praxis sind notwendig.

Gibt es gegenwärtig ein Projekt zur Geschlechterspezifik in der Medizin, das Sie bearbeiten?

Prof. Stengler: In Leipzig läuft gegenwärtig eine groß angelegte Gesundheitsstudie – LIFE – in die mehr als 25.000 Bürger/innen – Kinder, Jugendliche, Erwachsene – bis ins höhere Alter eingebunden sind. LIFE erforscht die volkswirtschaftlich bedeutsamen Zivilisationserkrankungen auf breiter Front, will ihren Ursachen auf den Grund gehen. Wir docken mit unserer psychiatrischen Expertise an diese umfassende Studie an. So werden z. B. unsere Daten einbezogen, die wir zur Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen unter Geschlechteraspekten gewinnen. Nehmen zum Beispiel adipöse Frauen eine Psychotherapie oder präventive Angebote häufiger in Anspruch als adipöse Männer? Diese Frage kann man vielleicht auch aus der Erfahrung heraus mit Ja beantworten, weil Frauen sicher mehr unter dem Übergewicht leiden, aber die Zahlen werden es exakt zeigen.

Zu den Erkrankungen, deren Entstehung und Behandlung besonders im Fokus der Wissenschaft stehen, gehört Alzheimer. Spielt dabei der Geschlechteraspekt auch eine Rolle?

Prof. Stengler: Auf jeden Fall, und nicht nur deshalb, weil Frauen im Durchschnitt etwa sechs Jahre länger als Männer leben und die Erkrankung mit fortschreitendem Alter immer häufiger wird. Die Alzheimer-Erkrankung betrifft Frauen nicht nur häufiger, sondern sie erkranken in aller Regel auch schwerer. Deshalb sind deutlich mehr Alzheimer-Patienten weiblich. Auch sind die Verläufe bei Männern und Frauen zum Teil sehr unterschiedlich. Es gibt also bei Alzheimer wie auch bei anderen Formen der Demenz einen großen Forschungsbedarf insbesondere unter dem Geschlechter­aspekt. Wir setzen auch zu diesem Thema auf Kooperationen mit anderen Wissenschaftsbereichen unserer Uni, etwa dem Paul-Flechsig-Institut, Prof. Dr. Thomas Arendt.
Demenz-Erkrankungen haben auch noch eine andere Seite – neben der der Wissenschaft und Medizin. Die Pflege dementer Menschen muss qualifiziert erfolgen, von Seiten der professionellen Pflegenden ebenso wie von Seiten der Angehörigen. Hier brauchen wir Informationen, Standards, Hilfestellung – dazu gehört auch das Wissen, dass Männer und Frauen unterschiedlich angesprochen, unterschiedlich versorgt werden müssen, wenn diese Pflege erfolgreich und sinnvoll sein soll. Deshalb der Anspruch an unsere Arbeit, ohne Zeitverlust belastbare Fakten bereitzustellen. Womit wir wieder bei unserem Ausgangspunkt wären. Solche Forschungen benötigen eine ausreichende finanzielle Ausstattung!

Und ein weiterer Aspekt liegt mir am Herzen: Geschlechterspezifik betrifft auch die professionelle Seite in der Medizin. Es ist ein Unterschied, ob ein Arzt oder eine Ärztin/ ein Pfleger oder eine Schwester einem Patient oder einer Patientin gegenübersitzt… Soziale Rollen und deren Verständnis bei den Profis und bei den Patient/innen müssen berücksichtigt werden. Männer und Frauen haben unterschiedliche Sichtweisen über Leiden, Schmerzen, Beschwerden, Krank- oder Gesund-Sein. Sie nehmen dies u.a. aus ihrem unterschiedlichen sozialen Rollenverständnis unterschiedlich wahr und gehen dementsprechend mit „weiblicher und männlicher Beschwerdeführung“ unterschiedlich um… – d.h. auch in der Ausbildung und beim Studium der Profis im Gesundheitswesen ist geschlechterspezifische Medizin hochrelevant!

Das Gespräch führte:
Annegret Hofmann