Modewort oder Notwendigkeit ...

Interview mit Prof. Dr. Dr. Bettina Pfleiderer, Münster

Was ist die Gendermedizin? Darüber diskutierten vor wenigen Wochen die Teilnehmer eines Workshops in Münster. Die Arbeitsgruppe Cognition & Gender der Uni Münster, die AG Molekulargenetische Tumorpräventionsforschung des Uni-Klinikums Essen und das Essener Kolleg für Geschlechterforschung hatten dazu eingeladen. Eine von zunehmend mehr Veranstaltungen, die sich der geschlechtsspezifischen Medizin widmen. Was steckt dahinter? Wir fragten Prof. Dr. Dr. Bettina Pfleiderer, eine der Initiatorinnen des Workshops in Münster und Mitglied unseres Beirats.

Prof. Pfleiderer: Bleiben wir beim Titel unseres Workshops: „Modewort oder Notwendigkeit?“ Gerade dies wurde während des Workshops eingehend diskutiert, und zusammenfassen könnte man es mit einem „sowohl als auch“. Man ist up-to-date, wenn man sich zur Gendermedizin bekennt, aber noch längst nicht immer wird auch die Notwendigkeit gesehen. Wir stellten auch fest: Geschlechtsspezifische Medizin bedeutet nicht für jeden und jede das Gleiche.

Für manche steht fast ausschließlich die Frage der medizinischen Versorgung von Frauen im Mittelpunkt, und hier zugespitzt deren mögliche Unter- oder Fehlversorgung in bestimmten medizinischen Fächern. Sicher war diese Fokussierung vor einiger Zeit eine notwendige und höchst aktuelle Ausgangsthematik, und dankenswerterweise wurde das Geschlecht in der Medizin damit auch in den Fokus gerückt. Aber ich denke, wir müssen jetzt einen Schritt weitergehen. Die Unterschiedlichkeit von Frauen und Männern gebietet die Berücksichtigung der Spezifika in der Diagnostik und Therapie beider Geschlechter, nicht zuletzt unter Heranziehen verschiedener anderer Faktoren wie Alter und soziales Umfeld. Erst dann sind wir auf dem Weg zur besten medizinische Versorgung von Frauen und Männern. Dabei könnte eine geschlechterspezifische Krankheitsprävention und vor allem Behandlung in Kombination mit einem geschlechtssensitiven Rollenbewusstsein die Gesundheit beider Geschlechter in hohem Maße verbessern. Das ist im Zusammenhang mit dem Begriff Gendermedizin noch nicht Allgemeinverständnis. Veranstaltungen wie der oben genannte Workshop bringen uns dabei Schritt für Schritt weiter.

Initiiert wurde der Workshop vom Verbund „Geschlechtersensible Forschung in Epidemiologie, Neurowissenschaften und Genetik/Tumorforschung“, in den Sie mit Ihrem Projekt Neurowissenschaften und Frau PD Dr. Andrea Kindler-Röhrborn, Essen, mit dem Thema Experimentelle Genetik/Tumorforschung eingebunden sind. Das nur eine der inzwischen zahlenmäßig wachsenden Forschungsprojekte in Sachen Gendermedizin in verschiedenen Einrichtungen des Landes. Weiß man überhaupt voneinander?

Prof. Pfleiderer: Das könnte sicher noch verbessert werden. Umso wichtiger sind Vernetzung und gut organisierte Kommunikation. Dann kommen wir auch einer allgemein akzeptierten Definition einer geschlechtersensiblen Medizin – oder Gendermedizin oder geschlechtsspezifischen Medizin – näher. Ziel des Workshops war daher auch der aktive und interdisziplinäre Ideenaustausch unter den Teilnehmenden verschiedenster Fachrichtungen zum Thema Gendermedizin. Es wurde bewusst darauf Wert gelegt, dass dieser Workshop offen war für Interessierte aller Fachdisziplinen und jeglicher Ausbildungsstände. Während ein größerer Anteil der 40 Teilnehmenden aus der Humanmedizin, Psychologie und Biologie kamen, hatten auch viele einen gänzlich unterschiedlichen fachlichen Hintergrund.

Ein Dreh- und Angelpunkt für die Zukunft der geschlechtersensiblen Medizin ist die Ausbildung der zukünftigen Ärztinnen und Ärzte...

Prof. Pfleiderer: Kenntnisse über geschlechtersensible Aspekte in der Medizin sind eine essentielle Grundlage für eine optimale Patient/innenversorgung. Vieles ist doch noch unbekannt. Unsere eigenen Daten zeigen (www.gendermedlearning.de), dass es beispielsweise völlig unterschätzt wird, wie wichtig das Geschlecht des Behandelnden für den Therapieerfolg und die Arzt-Patient/innenbeziehung sein kann. Da Gendersensibilität und Rollenbewusstsein notwendige Voraussetzungen zur guten Versorgung von Patient/innen sind, sollte dieses Wissen in der medizinischen Ausbildung eine noch stärkere Berücksichtigung finden. Unsere Studienergebnisse zeigen, dass hier noch ein starkes Optimierungspotenzial besteht. Diese Kompetenz ist sowohl unter Studierenden als auch Lehrenden unzureichend vorhanden.

Es besteht daher großer Bedarf zur verstärkten Integration in die medizinische Lehre. Ein Positionspapier, das auf einem Workshop „Integration geschlechtersensibler Aspekte in die medizinische Lehre – Status Quo und Zukunftsperspektiven“ in Münster im Mai 2012 erarbeitet wurde, regt an, geschlechterspezifische Inhalte – unter Verwendung einheitlicher Begriffsdefinitionen und einer geschlechterneutralen Sprache – schon ab dem ersten Semester flächendeckend zu unterrichten. (Pfleiderer B et al. Integration geschlechtersensibler Aspekte in die medizinische Lehre – Status Quo und Zukunftsperspektiven. GMS Z Med Ausbild. 2012;29(5):Doc65. DOI: 10.3205/zma000835)

Das heißt aber nicht, dass die Stoffmenge für Studierende noch umfangreicher werden muss. Die Integration dieser Inhalte sollte exemplarisch und idealerweise longitudinal über das Studium verteilt geschehen. Erfreulicherweise sehen wir zunehmend Erfolge. Immer mehr Lehrende nutzen diese Möglichkeit, um geschlechtspezifische Inhalte in ihrem Fach aufzugreifen und zu vermitteln. Dennoch stehen wir immer noch am Anfang.

Das Gespräch führte Annegret Hofmann
(Zusammenfassung des Workshops findet sich unter:
http://www.epimed-gender.net/de/koordination/archiv/detail-view/article/workshopbericht-gendermedizin-modewort-oder-notwendigkeit.html?no_cache=1)