Prof. Dr. Ursula Härtel ist Epidemiologin und Medizinsoziologin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Sie leitet u. a. eine rehabiltationswissenschaftliche Langzeitstudie über „Geschlechtsspezifische Unterschiede im Erfolg von Reha-Maßnahmen bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit“, die in Kooperation mit der Klinik Höhenried durchgeführt wird.
Frau Professor Härtel, wenn es um Erfahrungen zu geschlechtsspezifischen Aspekten in der Rehabilitation geht, trifft man fast ausschließlich auf Ihre Arbeiten. Interessieren sich so wenige für dieses Thema?
Prof. Härtel: Ich finde schon, dass sich sehr viele für dieses Thema interessieren. Allerdings hapert es meistens an der Umsetzung von Forschungserkenntnissen in die Praxis. Hier sind wir sicher eine Ausnahme, da es uns gelungen ist, die Erkenntnisse unserer wissenschaftlichen Untersuchungen in die kardiologische Routineversorgung umzusetzen. Diese geschieht seit etwa 10 Jahren in Kooperation mit der Klinik Höhenried. Dort haben wir uns insbesondere mit den Unterschieden zwischen Männern und Frauen befasst, die nach einem Herzinfarkt in die stationäre Rehabilitation kommen.
Welche Unterschiede konnten Sie feststellen?
Prof. Härtel: In einer Follow-up-Studie haben wir untersucht, welche physischen, psychischen und Lebensstil-Unterschiede zwischen Männern und Frauen im Verlauf der Rehabilitation nach erstem Herzinfarkt existieren. Mit dem Ergebnis – Frauen hatten schon zu Beginn der Reha nach Herzinfarkt signifikant mehr chronische Begleiterkrankungen und körperliche Beschwerden als Männer, sie waren insgesamt schwächer und schlechter belastbar. Hier muss zwar berücksichtigt werden, dass Frauen bei einem ersten Herzinfarkt in der Regel zehn Jahre älter sind als die betroffenen Männer. Jedoch fanden wir sehr ähnliche Ergebnisse, wenn Männer und Frauen gleichen Alters miteinander verglichen wurden.
Während der stationären Reha konnten die klassischen Risikofaktoren wie hoher Blutdruck, erhöhte Blutfettwerte und Zigarettenrauchen bei Männern und Frauen signifikant gesenkt werden.
Angst- und Depressionssymptome waren jedoch – trotz Verbesserungen während der Reha – bei Frauen zu allen Zeitpunkten stärker ausgeprägt als bei Männern. Auch die selbst eingeschätzte Lebensqualität wird als schlechter bewertet.
Nach der Entlassung aus der stationären Reha nahmen Frauen und Männer etwa gleich häufig an ambulanten Herzgruppen teil, ca. 30 Prozent. Die Gründe für eine Nichtteilnahme waren jedoch sehr unterschiedlich.
Drei Jahre nach erstem Herzinfarkt hatten Frauen einen signifikant höheren Unterstützungsbedarf als Männer und tendenziell häufiger einen Re-Infarkt – auch hier spielen natürlich das höhere Lebensalter und entsprechende Lebensbedingungen wie Einzelhaushalt und eingeschränkte Mobilität eine Rolle. Zehn Jahre nach Entlassung aus der Reha waren die Überlebenschancen (Sterberaten) bei Männern und Frauen dann etwa gleich hoch.
Sie haben auf diesen Ergebnissen ein Frauenprogramm für die kardiologische Reha aufgebaut – mit welchen Parametern?
Prof. Härtel: Die Basis dieses Programms bilden separate Gruppen für Frauen in der Bewegungstherapie, der psychologischen Betreuung und der Ernährungsberatung.
In der Bewegungstherapie ist es wichtig, die frauenspezifische geringere Belastbarkeit zu berücksichtigen, aber auch Kategorien wie frauenspezifische Körperthemen, Schulung von Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Das Erkennen der eigenen Stärken, der Umgang mit frauenspezifischen Ängsten und Sorgen, Strategien der Stressbewältigung bei der Rückkehr ins Alltagsleben, all das sind auch zentrale Inhalte der psychologischen Gruppen. In der Ernährungsberatung geht es vor allem um herzgesunde Ernährung auch nach der Rückkehr ins Berufs- und Familienleben, das schließt spezielle Praxistipps bei frauenspezifischen Gewichts- und Ernährungsproblemen, z.B. Essverhalten unter Stress, ein.
Und wie sehen die Ergebnisse aus?
Prof. Härtel: Die Frauengruppen wurden von Patientinnen und Therapeuten in hohem Maße akzeptiert Es gab eine signifikant höhere Zufriedenheit der Frauengruppe sowohl mit der Bewegungstherapie als auch mit der Ernährungsberatung und der psychologischen Betreuung, verglichen mit der gemischten Reha-Gruppe. Zu beobachten ist auch ein nachhaltigerer Reha-Erfolg bei den langfristigen Lebensstiländerungen, insbesondere bei den sportlichen Aktivitäten und der Teilnahme an ambulanten Herzgruppen. Das sollte natürlich für die Renten- und Krankenversicherungen ein Anlass sein, eine stärkere Differenziertheit auch der ambulanten Reha-Angebote ins Auge zu fassen.
Inzwischen haben 1.500 Patientinnen an diesem Programm, das nun in die Regelversorgung von Höhenried integriert wurde, teilgenommen. Diese werden weiterhin wissenschaftlich begleitet, um die Qualität des Programms zu sichern.
Warum tun sich Kranken- und Rentenversicherungen offenbar immer noch schwer, weitere entsprechende Studien zu fördern, damit die Rehabilitation bei auch anderen Erkrankungen effektiver wird?
Prof. Härtel: Nach meiner Erfahrung ist es sehr schwierig, eingefahrene Versorgungsstrukturen zu ändern, insbesondere, wenn kein unmittelbarer ökonomischer Vorteil zu erkennen ist. Ziele wie gesundheitliche Lebensqualität oder Verbesserung des subjektiven Wohlbefindens oder „Zufriedenheit mit der Reha“ sind nicht unbedingt zentrale Anliegen der Kostenträger. Leichter wäre es wahrscheinlich, wenn z.B. nachgewiesen würde, dass eine geschlechtersensible Reha die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage reduziert. Angesichts der sehr unterschiedlichen Erwerbsbiografien von Frauen und Männern sind solche Berechnungen allerdings äußerst schwierig oder kaum sinnvoll, wenn etwa die „durchschnittliche“ Frau zum Zeitpunkt ihres ersten Herzinfarkts nicht mehr berufstätig ist.
Das Gespräch führte Annegret Hofmann