Netzwerk-Expertinnen-Runde in München
Neue Dimensionen, nachdrückliche Forderungen

Der Geschlechterblick in der Medizin eröffnet eine Vielzahl neuer Optionen für Prävention, Diagnostik, Therapie, Rehabilitation und Pflege. Darüber waren sich die rund 60 Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Diskussionsforum „Geschlechterperspektive in der Medizin“ einig, das am 5. Juli 2013 in München stattfand.

Eingeladen hatten das Netzwerk „Gendermedizin & Öffentlichkeit“ und der Gesundheitsbeirat der Landeshauptstadt München. Neun Expertinnen aus verschiedenen Bereichen der Medizin, aus Medizinethik und Soziologie stellten aktuelle Erkenntnisse vor und berieten gemeinsam mit den Teilnehmenden, welche nächsten Schritte zu tun sind, um die Geschlechterspezifik in der Medizin durchzusetzen und damit auch zu einer effektiveren Gestaltung des Gesundheitssystems zu gelangen. Moderiert wurde die Veranstaltung von Dr. Babette Schneider, Referat Gesundheit und Umwelt der Landeshauptstadt München, und Annegret Hofmann, Sprecherin Netzwerk Gendermedizin & Öffentlichkeit, Berlin.

Geschlechtsspezifik – und im weiteren Sinne ein auch altersspezifisch differenziertes Herangehen – in der Medizin umfasst alle Bereiche der gesundheitlichen Versorgung. Das zeigten Vorträge und Diskussion. Daraus einige Stichworte:

Medizinethik. Die Medizinhistorikerin und Ethikerin Prof. Dr. Mariacarla Gadebusch Bondio, Technische Universität München, forderte die Ethikkommissionen dazu auf, den geschlechterspezifischen Blick zu schärfen. Das gelte in vielerlei Hinsicht – bei Zulassungen von Medikamenten ebenso wie bei der Organspende, wo Frauen in übergroßer Zahl spendeten, aber seltener Nutznießerinnen seien.
Datenlage, Leitlinien. In fast allen Beiträgen beklagten die Expertinnen, dass es in Bezug auf die Geschlechtsspezifik eine schlechte Datenlage gebe, die dann letztlich als Begründung für nicht ausreichende Leitlinien herhalte. Johanna Zebisch, für Gender Mainstreaming in Medizin und Pflege im Städtischen Klinikum verantwortlich: „Politik und Forschungsgremien müssen dafür sorgen, dass Leitlinien unter diesem Aspekt entwickelt werden.“ In der Diskussion wurde dies als eine der dringlichsten Forderungen formuliert, die Münchner Stadträtin Monika Renner: „Wir brauchen ein Akutprogramm!“

Rehabilitation. Über die Entwicklung einer geschlechtsspezifischen kardiologischen Rehabilitation berichtete Prof. Dr. Ursula Härtel, Uni München, eine Pionierin auf diesem Gebiet. In der Reha-Klinik Höhenried wurde eine erfolgreiche Frauen-Reha entwickelt, mit nachvollziehbaren positiven Ergebnissen. Versorgungsforschung muss sich stärker auch diesen Themen widmen, so die Forderung. Rehabilitation steht an einem Ende der Behandlungskette, ganz am Anfang die Prävention. Hier muss Geschlechtsspezifik beginnen.

Volkskrankheiten. Bei den Herz-Kreislauf-Erkrankungen – deutschlandweit Todesursache Nr. 1 - sind die vorliegenden Erkenntnisse zur Geschlechterunterschiedlichkeit am größten, wenngleich auch hier die Praxisumsetzung weitgehend fehlt. Prof. Dr. Julinda Mehilli, Universitätsklinikum München: „ Die hohe Sterblichkeit bei älteren Frauen mit koronarer Herzerkrankung beruht meist auf einer zurückhaltenden Anwendung von lebensrettenden therapeutischen Maßnahmen sowohl medikamentös als auch interventionell.“ Zwingend notwendig auch die noch intensivere Zusammenarbeit von Kardiologen und Diabetologen – dazu Prof. Petra-Maria Schumm-Draeger, Städtisches Klinikum München: „Frauen mit Übergewicht und Adipositas haben ein höheres Risiko als Männer, ein metabolisches Syndrom und einen Typ 2 Diabetes zu entwickeln – und die Prävention muss bei den Kindern beginnen.“

Bio-psycho-sozial. Auf dieses Modell bei der Schmerztherapie verwies Dr. Miriam Schopper, Uniklinikum München. In der Diskussion aufgegriffen, entwickelte sich das Konstrukt aus drei Ansätzen zu einer Klammer für das, was geschlechtsspezifische Medizin will: Den Menschen in seiner Gesamtheit erfassen, als biologisches Wesen mit seiner Individualität und seinem gesellschaftlichen Kontext.

Ausbildung, Berufsausübung.
Dr. Astrid Bühren, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin, wandte sich in der Diskussion gegen die aktuell gern zitierte „Feminisierung“ des Arztberufes. Es handele sich doch eher um „Normalisierung“, wenn etwa gleich viele Frauen und Männer ärztlich tätig sind und ihre jeweiligen Unterschiedlichkeiten einbrächten. Frauen bevorzugen die sprechende Medizin, sie wird aber in den Fallpauschalen ungenügend berücksichtigt! Auch das gehört in den Forderungskatalog. Die Berufsbilder ändern sich auf diese Weise – Prof. Dr. Ellen Hoffmann, Städtisches Klinikum München, berichtete über eine internationale Initiative von Ärztinnen der Interventionellen Kardiologie, die Medizintechnik-Unternehmen veranlasst, Geräte mit weniger Strahlungsbelastung herzustellen. Das kommt auch männlichen Kollegen zugute.

Männergesundheit. Prof. Dr. Anne Maria Möller-Leimkühler, Universitätsklinikum München, erläuterte am Beispiel der Depression, wie gesellschaftliche Grundmuster die psychische Gesundheit der Geschlechter beeinflussen – die herkömmliche Normorientierung der Männer begünstige das Entstehen und die Folgen einer Depression bis hin zu den höheren Selbstmordzahlen bei Männern. „Wir brauchen eine gendersensible Depressionsdiagnostik.“

Wissenszuwachs. Mit der Regenerativen Medizin, die körpereigene Zellen verwendet, eröffnen sich neue Forschungs- und Anwendungsfelder, die von Anfang an genderspezifisch genutzt werden müssen. Darauf verwies Prof. Dr. Marita Eisenmann-Klein, München, in ihrem Beitrag. Jetzt komme diese neue Methode vor allem in der Plastischen Chirurgie, z. B. bei der Brustrekonstruktion bei MaCa-Patientinnen zum Einsatz, eröffne aber bisher noch nicht absehbare Möglichkeiten in vielen medizinischen Feldern.

Alle Referate