Was hat Sie veranlasst, die Rehabilitation in Ihrem Haus unter geschlechtsspezifischen Aspekten zu organisieren?
Prof. Schmid-Ott: Die Erkenntnis, dass Frauen und Männer unterschiedlich erkranken und dass Therapien – wie auch die in der Rehabilitation – dieser Tatsache Rechnung tragen sollten, ist ja nicht mehr ganz neu, wenngleich sie sich in der medizinischen Praxis offenbar schwer durchsetzt. Ich bin seit 2007 an der Klinik. Es ergab sich auch durch meine gleichzeitige Tätigkeit als Professor für Psychosomatik und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover, dass wir in der Abteilung Psychosomatik der Berolina Klinik in Kooperation mit Prof. Dr. Wolfgang Schulz von der TU Braunschweig (Institut für Psychologie, Abteilung für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Diagnostik) bereits ab 2008 ein Forschungsprojekt „W50 plus“ durchführen konnten. Gegenstand des Projektes war die langfristige Wirkung der stationären psychosomatischen Rehabilitation für Patientinnen zwischen 50 und 65 Jahren. Wir erfuhren dabei, wie sinnvoll es ist, in eine Rehabilitation unterschiedliche Angebote für Männer und Frauen aufzunehmen.
Angenommen, eine 50-jährige, im Berufsleben stehende Frau kommt zu Ihnen in die Rehabilitation. Kommt sie automatisch in eine „Frauengruppe“?
Prof. Schmid-Ott: Nein, da besteht kein Automatismus, wir haben dafür ein richtiges Lotsensystem entwickelt. Zu Beginn ermitteln wir gemeinsam mit der Patientin, wie natürlich auch mit den männlichen Patienten, welche Problematik im Vordergrund steht und welche Möglichkeiten wir bieten, um diese Problematik in der Zeit der Rehabilitation anzugehen. So haben wir indikationsspezifische Gruppen – wie z. B. bei Angst, Schmerz, Migräne, Depression bzw. einer verlängerten Trauerreaktion nach Verlust einer bzw. eines nahen Angehörigen. Seit kurzem gibt es auch eine Beratung in Bezug auf somatopsychische Aspekte bei einer Endometriose (im Einzelsetting). Insgesamt sind es 18 Therapiegruppen, in denen unser Team sehr engagiert mit den Patientinnen oder auch gemischtgeschlechtlich arbeitet. Auch die Altersstruktur spielt eine Rolle. Wir trennen da zwischen Patientinnen unter und über 50, da sich die Lebenswelten doch oft sehr unterscheiden. Die Aufgaben und Herausforderungen sind in den beiden Alterskategorien ausgesprochen unterschiedlich.
Oberärztin Morshuis: Die jüngere Frau hat oft vor allem mit der Doppel- bzw. Dreifachbelastung Familie, Kinder und Beruf zu tun. Die Herausforderung für die älter werdende Frau liegt u. a. in der Konfrontation mit dem Älterwerden an sich sowie der Konfrontation mit dem „empty-nest“-Syndrom. Darüber hinaus gibt es durch den Auszug der Kinder auch Veränderungen in der Partnerschaft, oft kommen die Sorge oder Pflege von Eltern oder Schwiegereltern hinzu.
Prof. Schmid-Ott: Es gibt natürlich auch eine Männergruppe. Allerdings ist der Anteil von Frauen in unserer Patientenklientel größer als der von Männern. Vielleicht ändert sich das, wenn die gesellschaftliche Akzeptanz dafür wächst, dass auch Männer unter psychischen Problemen leiden, sie unterschiedlich bewältigen und dafür geeignete Therapien notwendig sind.
Dr. Härdrich: Patientinnen und Patienten öffnen sich in geschlechtsspezifischen Gruppen deutlich leichter und haben weniger Hemmungen, ihre Problematik dort darzustellen. Und das selbst, wenn sie vorher keine Gruppenerfahrung hatten.
Ihre Patienten und Patienten kommen mit oft sehr einschneidenden Krankheitserfahrungen und ausgeprägtem Erleben der Beschwerden zu Ihnen. Spielen in diesen Krankheitsgeschichten geschlechtspezifische Gesichtspunkte schon eine Rolle?
Prof. Schmid-Ott: Was die vorangegangenen ambulanten Therapien betrifft, nach meinen Erfahrungen kaum. Deshalb würde ich mir ja wünschen, dass die Einweisungen hierüber schon mehr aussagen. Aber das würde bedeuten, dass Haus- und auch viele Fachärzte mehr als bisher um die Problematik der geschlechtersensiblen Medizin wissen. Hier ist noch viel zu tun. Wir gehen davon aus, dass unsere geschlechterspezifische Rehabilitation Erfolge zeigt. Speziell die Patientinnen nehmen jetzt mehr an Stabilität und Kenntnissen aus der Rehabilitation mit, als sie dies bei einer gemischt-geschlechtlichen Rehabilitation täten. Das unterstreicht die Notwendigkeit der Gendermedizin in vielen Bereichen – wir geben unsere Erkenntnisse gern weiter!
Das Interview führte Annegret Hofmann