Sie beschäftigen sich seit längerem mit geschlechtsspezifischen Aspekten der Pharmakologie. Was ist aus Ihrer Sicht aktuell?
Prof. Nieber: Unsere eindringliche Forderung, mehr Frauen in klinische Studien einzubeziehen, um so früh wie möglich unerwünschte Nebenwirkungen von Medikamenten auszuschließen, ist in den letzten Jahren von den Pharmaherstellern, nicht zuletzt durch politischen Druck, stärker wahrgenommen worden. Aber der entscheidende Fortschritt ist bis jetzt ausgeblieben. Mir liegt dabei vor allem die Pharmakokinetik am Herzen. Aufnahme und Verteilung sowie Umsetzung eines Arzneimittels im Körper verlaufen, das wissen wir heute, bei Frauen und Männern unterschiedlich. Unterschiede gibt es in der Wasser-Fett-Verteilung, bei der Plasma-Eiweiß-Bindung oder bei den Metabolisierungsprozessen. Diese Unterschiede zu berücksichtigen ist eine notwendige Voraussetzung für die richtige Dosisanpassung. Wir brauchen deshalb dringend umfassende Studien, die die bestehenden Kenntnislücken schließen.
Es genügt also nicht, nach Markteinführung eines Medikaments dessen Wirksamkeit im Detail zu ermitteln?
Prof. Nieber: Im Gegenteil, man muss viel früher als bisher ansetzen, in der Zellforschung, beim Tierexperiment. Die Forderung vieler Wissenschaftler, männliche und weibliche Labortiere getrennt zu untersuchen oder aber Zellkulturen wie z. B. Blutzellen von männlichen und weiblichen Personen zu verwenden, weil hier schon die Unterschiede offensichtlich werden, scheint auf den ersten Blick leicht zu erfüllen. Sie stößt aber oft noch auf Widerstände, zumal in Deutschland. Dabei gibt es schon aufschlussreiche Ergebnisse, z. B. zur geschlechtsspezifischen Regulation eines Enzyms bei Enzündungsreaktionen durch Jenaer Pharmazeuten.
Welche Forschungswege werden Sie auf dem Kongress in Berlin vorstellen?
Prof. Nieber: Ich werde geschlechtspezifische Unterschiede in der Pharmakokinetik und Pharmakodynamik an Hand von Beispielen vorstellen. Weiterhin war ich in ein Projekt eingebunden, bei dem wir uns mit neuartigen Ansatzpunkten von pflanzlichen Wirkstoffen bei funktionellen Darmerkrankungen beschäftigten. In einem Teilthema, das z. T. aus Mitteln der Europäischen Union gefördert wurde, untersuchten wir Unterschiede in Ausprägung und Induktionsmechanismen bei weiblichen und männlichen Tieren. Das lieferte wichtige Erkenntnisse für mögliche zukünftige geschlechtsspezifische Therapiestrategien bei Darmerkrankungen.