Trotz wachsender Erkenntnisse – Noch viel Gleichgültigkeit in Bezug auf geschlechtersensible Medizin

PD Dr. med. Andrea Kindler-Röhrborn leitet im Institut für Pathologie und Neuropathologie des Uniklinikums Essen die Forschungsgruppe „Molecular Cancer Prevention Research“. Sie forscht zur Genetik und Physiologie der Geschlechterunterschiede beim Krebsrisiko. Dr. Kindler-Röhrborn war eine der Referentinnen beim Netzwerk-Workshop „Sie tickt anders. Er auch“ im Mai in Bochum.

Was meinen Sie – hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der unterschiedliche genetische Bauplan Ursache für ernst zunehmende Unterschiede zwischen den Geschlechtern ist?

Dr. Kindler-Röhrborn:
Das ist ein noch andauernder Prozess. Über viele Jahre ist die Genetik diesbezüglich unterschätzt worden. Exogene und vorwiegend soziale Faktoren wie Erziehung, Rollenverständnis usw. standen im Vordergrund. Hier beginnt langsam wieder ein Umdenken, aber wir stehen hier in der Forschung noch ziemlich am Anfang. Auf viele Fakten können wir aber schon verweisen, das betrifft die genetischen Unterschiede ebenso wie – daraus resultierend - z.B. Unterschiede des Stoffwechsels oder des Immunsystems.
Allerdings darf man nun nicht in eine vollständig gegenteilige Bewertung der Einflussfaktoren verfallen. Die genetischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind sehr entscheidend z. B. für Krankheitsentstehen und -verlauf, aber eben auch nicht alles. Das Zusammenspiel der genetischen mit den exogenen Faktoren und dem sozial Antrainierten macht schließlich die Differenziertheit, aber auch die Gemeinsamkeiten der Geschlechter aus.

Sie beschäftigen sich mit den Geschlechterunterschieden bei der Entstehung von Krebs. Zu welchen Ergebnissen sind Sie dabei gekommen?

Dr. Kindler-Röhrborn: Wir haben dazu vor allem den Tierversuch, der uns zunächst einmal wichtige Aufschlüsse gibt. Dabei gewannen wir die Erkenntnis, dass männliche Ratten unter den gleichen Lebensbedingungen und unter der Exposition gegenüber derselben krebsauslösenden Substanz wesentlich häufiger an bestimmten Tumoren des Nervensystems erkranken als die weiblichen Tiere. Das ist Fakt – und wir haben inzwischen auch Gene identifiziert, die mit diesen Geschlechterunterschieden in Zusammenhang stehen. Andererseits zeigt sich auch, wie entscheidend exogene Faktoren und soziale Komponenten auf die geschlechtsspezifische Krebsentstehung wirken. Da haben wir die überwiegend männlichen Arbeiter, die in ihrem Beruf Asbest ausgesetzt sind. Sie erkranken vergleichsweise häufig an Pleuramesotheliomen, einem sehr bösartigen Tumor des Rippenfells. Ebenfalls betroffen sind aber gar nicht so selten ihre Ehefrauen, die mit der kontaminierten Berufsbekleidung dieser Männer umgehen, die sie waschen usw.
Was uns das zeigt: Wenn wir den Geschlechteraspekt als einen wichtigen Faktor im Bezug auf die aktuell diskutierte individualisierte Medizin berücksichtigen, dann muss das den Blick auf viele Lebensbereiche Umwelt, Lebensstil, Ernährung usw. – einschließen. Die Medizin muss differenzierter herangehen!

Warum noch so viel Zurückhaltung, wenn es um eine geschlechtsspezifische Medizin geht? Warum hat sie den medizinischen Alltag noch kaum erreicht?

Dr. Kindler-Röhrborn: Das hat mehrere Gründe. Zum einem ist es so, dass auch die Wissenschaft hier noch mehr Tempo vorlegen muss. Zu wenige Forscher/innen befassen sich damit, es gibt kaum Anreize – Dissertationsthemen, Forschungspreise oder auch entsprechende Fragestellungen bei der Leitlinienentwicklung usw. –, die dazu beitragen könnten, die geschlechtersensiblen Themen voranzubringen, mehr Studien und eine bessere Datenlage bereitzustellen. Leider sehe ich hier noch viel Gleichgültigkeit und Skepsis!
Das sollte uns nicht davon abhalten, offensiv zu werden, auch jetzt schon jede Möglichkeit zu nutzen, um die bereits bekannten Fakten zu publizieren, in der Fachwelt wie auch in der Öffentlichkeit zu diskutieren.
Ich bin überzeugt, dass wir mit einer geschlechtersensiblen Sichtweise und den daraus resultierenden neuen Erkenntnissen eine genauere Diagnostik, zielgerichtete und damit erfolgreichere Therapien haben werden. Ganz abgesehen davon, dass eine solche Betrachtungsweise auch die Prävention in vielen Fällen entscheidend beeinflussen kann, so dass viele Krankheiten dann verhindert werden könnten. Aber das ist noch ein weiter Weg.

Mit PD Dr. Andrea Kindler-Röhrborn sprach Annegret Hofmann