Verbundforschung und „Epi goes Gender“: Beispielhaft erfolgreich

Mehr als drei Jahre arbeiteten im Verbund „Geschlechtersensible Forschung in Epidemiologie, Neurowissenschaft und Genetik/Tumorforschung“ Wissenschaftler/innen verschiedener Fachgebiete zusammen. Vor wenigen Wochen trafen sie sich zu einer Abschlusstagung in Bremen. Wir sprachen mit Dr. phil. Ingeborg Jahn, Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS, Bremen, die eines der drei Verbundprojekte leitete.

Projektgeförderte Forschung endet irgendwann. Diesen Schlussstrich mussten Sie nun auch erst einmal ziehen. Das BMBF fördert nicht weiter. War das Unterfangen zumindest erfolgreich?

Dr. Jahn: Ich denke, wir haben das sehr gut geschafft. Sie wählen den Ausdruck „Unterfangen“ für den Verbund. Das kann man so sagen, denn für die Zusammenarbeit von Sozialwissenschaftlerinnen und Medizinerinnen in diesem Bereich gab es bislang kaum Vorbilder … insofern war diese risikobehaftet. Thematisch waren wir breit angelegt. Geschlechtersensible Forschung in den Neurowissenschaften bearbeitete die Gruppe um Prof. Dr. Dr. Bettina Pfleiderer, Münster. Für Genetik/Tumorforschung war PD Dr. Andrea Kindler-Röhrborn, Essen und ihre Arbeitsgruppe verantwortlich. Epidemiologie, das Teilprojekt „Epi goes Gender“ sowie die Koordination des Verbundes waren meine Aufgaben. Alle drei Projektgruppen haben für sich eine positive Bilanz gezogen, und auch für die Zusammenarbeit im Verbund können wir das sagen. Wir haben uns zum Beispiel sehr ausführlich mit der Verwendung von Begriffen beschäftigt: Was verstehen wir unter geschlechtersensibler Forschung? Was meint eigentlich der Begriff „geschlechtsspezifisch“, wenn wir es doch sehr häufig mit Sachverhalten zu tun haben, die im Gegensatz zu den Reproduktionsorganen nicht spezifisch, sondern in unterschiedlicher Ausprägung bei Frauen und Männern vorkommen. Der Begriff „geschlechtsspezifisch“ fördert Geschlechterstereotype, daher bevorzugen wir die Begriffe geschlechtsabhängig oder geschlechtsassoziiert.

Sprechen wir von der Epidemiologie. Man müsste ja annehmen, dass hier die Geschlechterspezifizierung längst Usus ist...?

Dr. Jahn: Na ja, das könnte man nicht nur für die Epidemiologie annehmen. In der Epidemiologie gibt es bereits eine Fülle von geschlechterbezogenem Fachwissen, denn das Geschlecht Mann/Frau wird meist routinemäßig berücksichtigt. Was ich besonders bemerkenswert finde: Die Epidemiologinnen und Epidemiologen in Deutschland haben bereits 1998 folgenden Satz in ihren Leitlinien für Gute Epidemiologische Praxis (GEP) festschrieben: „Zum Beispiel sind Studiendesign und Untersuchungsmethodik so anzulegen, dass die geschlechtsspezifischen (heute würde ich sagen: geschlechtsassoziierten) Aspekte des Themas bzw. der Fragestellung angemessen erfasst und entdeckt werden können. Bei Themen und Fragestellungen, die beide Geschlechter betreffen, ist eine Begründung erforderlich, wenn nur ein Geschlecht in die Studien eingeschlossen wird.“
(Quelle: http://dgepi.de/berichte-und-publikationen/leitlinien-und-empfehlungen.html)

Leider wird dies im konkreten Forschungsalltag kaum umgesetzt. Die Praxis ist: Geschlecht und Alter werden erhoben, evtl. auch ausgewertet, aber damit hat es sich dann auch. Geschlechtersensibilität in der Forschung bedeutet aber – so haben wir es definiert – in jeder Phase des Forschungsprozesses die relevanten Geschlechteraspekte begründet, angemessen und sachgerecht zu berücksichtigen. Dass dies selten geschieht, hat auch damit zu tun, dass es nicht bzw. zu selten gelehrt wird und somit das Fachwissen fehlt. Dies ist ein Ergebnis unserer Befragung, die wir gemeinsam mit den epidemiologischen Fachgesellschaften durchgeführt haben. Knapp 300 Expert/innen aus der Epidemiologie haben an der Befragung teilgenommen. Davon haben rund 40 Prozent zukünftiges Interesse am Thema angegeben und ebenso viele, dass sie dafür nicht ausgebildet sind. Dies lässt uns hoffen, dass wir auf einem guten Weg sind.

Was muss sich ändern?

Dr. Jahn: Es muss sich auf allen Ebenen etwas ändern. Unser Fokus war es, individuell Forscherinnen und Forschern zu qualifizieren. Hier in Bremen haben wir zum Beispiel sogenannte „Februar-Workshops“ ins Leben gerufen und dreimal durchgeführt, die mit 30 bis 60 Teilnehmern und Teilnehmerinnen sehr gut angenommen wurden. Genauso wichtig sind übergreifende Aktivitäten. Ich will nur einige herausgreifen: Die Fachgesellschaften könnten die Leitlinien für Gute epidemiologische Praxis untermauern, indem sie Materialien und Checklisten erarbeiten, wie man geschlechtersensibel epidemiologisch forscht. Die anerkannteste „Währung“ im Wissenschaftsbetrieb sind Publikationen in guten Fachzeitschriften. Wenn Fachzeitschriften Anforderungen an Geschlechtersensibilität formulieren (einige haben das bereits getan), wird es leichter, dies auch zu publizieren. Nicht zuletzt ist die Forschungsförderung gefragt: Das Bundesministerium für Bildung und Forschung und auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) als große Fördermittelgeber könnten hier mit einer entsprechenden Förderpolitik aktiv werden. Beispiele dafür gibt es in der EU mit dem Programm Horizon 2020 und auch in Kanada. Alle Antragsteller/innen müssen deutlich machen, wie sie biologische und soziale Geschlechteraspekte berücksichtigen bzw. substanziell begründen, warum sie dies nicht tun. Wie bei allen neuen Themen braucht es weiterhin gezielte Forschungsförderung für explizit geschlechtersensible Forschung bzw. Geschlechterforschung in Epidemiologie und Medizin.

Einer der Schwerpunkte des Verbunds lag auf der Nachwuchsqualifizierung?

Dr. Jahn: Ja, das war ein zentrales Anliegen aller drei Teilprojekte, und wir haben dafür das Label „Nachwuchswissenschaftler/innen schaffen neues geschlechtersensibles Wissen“ kreiert. Man kann sagen, dies hat sich als Erfolgsmodell herausgestellt. In den medizinischen Teilprojekten wurden sogenannte Ausbildungsforschungsprojekte durchgeführt, in denen Nachwuchswissenschaftler/innen mitarbeiten und Geschlechtersensibilität ganz hautnah erleben konnten. Im Projekt „Epi goes Gender“ haben wir ein Programm von Workshops und Coachings entwickelt, in dem 15 Nachwuchswissenschaftler/innen mit eigenen Forschungsprojekten beteiligt waren. Mit ihnen haben wir Stück für Stück erarbeitet, was es bedeutet, geschlechtersensibel zu forschen: von der Entwicklung der Fragestellung über die Datenerhebung und Auswertung bis hin zur Publikation der Ergebnisse.
Wir müssen neue Denkansätze vor allem bei den heranwachsenden Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen sowie Ärztinnen und Ärzten fördern. Für sie muss es selbstverständlich werden, differenziert zu denken, das dualistische Denkmodell zu verlassen und neue Erkenntnisse in ihrem Forschungsalltag anzuwenden. Entsprechende Bausteine müssen in die universitären Curricula einfließen.

…Und wie geht es nun weiter?

Dr. Jahn: Leider haben wir keine Finanzmittel, um den Verbund weiterzuführen. Die Beteiligten am Verbundprojekt werden sich aber, jede auf ihre Weise, bemühen, die gewonnenen Erkenntnisse zu nutzen, weiter zu verbreiten sowie die Saat zu legen und zu pflegen. Bei uns im Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie - BIPS in Bremen ist der Arbeitsbereich Geschlecht und Gesundheit fester Bestandteil der Sozialepidemiologie. Wir werden weitermachen, diese Forschungsperspektive voranzubringen, wie zum Beispiel beim nächsten Februar-Workshop am12./13. Februar 2015. Des Weiteren bleibt die Webseite http://www.epimed-gender.net aktiv und wird weiter gepflegt.