Herr Dr. Kupatz, Sie gehören im Land Mecklenburg-Vorpommern zu den Pionieren einer geschlechtsspezifischen Medizin. Wie kam es dazu?
Dr. Kupatz: Das Sozialministerium Mecklenburg-Vorpommern empfahl der Landesvereinigung für Gesundheitsförderung im Jahre 2005 eine intensivere Beschäftigung mit dem Thema Männergesundheit. Als Vorstandsmitglied nahm ich mich dieser Aufgabe an. Es wurde eine Landesarbeitsgemeinschaft Männergesundheit gegründet, die zahlreiche Workshops und eine Landesfachkonferenz „Männerleben“ im Jahre 2008 durchführte. Wir verfassten elf Thesen der LAG Männergesundheit und hofften auf eine Reaktion aus der Gesellschaft. Bis jetzt blieb sie leider aus...
Als „bundesweit einmalig“ bezeichnet der Arbeitskreis Gender und Gesundheit M-V, dem Sie angehören, den „Zusammenschluss der langjährig bestehenden Gremien zur Frauen- und Männergesundheit zu einer Struktur“...
Dr. Kupatz: Bereits im Jahr 1995 wurde der gemeinsame Arbeitskreis Frauengesundheit in Mecklenburg- Vorpommern (GAF) gegründet, der vom Landesfrauenrat M-V und der Landesvereinigung für Gesundheitsförderung M-V e.V. getragen und von der Parlamentarischen Staatssekretärin für Frauen- und Gleichstellung M-V unterstützt wurde. Auch unserer LAG Männergesundheit ging es ja nicht nur um medizinische Fragestellungen, sondern um eine „erweiterte“, geschlechtsspezifische Betrachtung des Themas Gesundheit. Und wir bezogen auch die Erfahrungen des AK Frauengesundheit mit in unsere Arbeit ein – das Zusammengehen beider Gremien bei gleich gelagerter Interessenlage bot sich nicht nur an, sondern zeigte nach einer kurzen Phase der Überwindung von „Berührungsängsten“ auf beiden Seiten auch sehr schnell, dass es zu einer qualitativen Weiterentwicklung der Arbeit auf dem Gebiet der Frauen- und Männergesundheit kommen konnte. 2010 führten beide Gremien dann gemeinsam den 1. Genderworkshop zum Thema „Frauen und Männer richtig ansprechen, aber wie?“ durch, der sich an MultiplikatorInnen von Gesundheitsförderung und Prävention richtete. Und als die „Männerseite“ von der „Frauenseite“ zu ihrer Klausurtagung eingeladen wurde, war das dann auch schon die Geburtsstunde des Arbeitskreises Gender und Gesundheit in unserem Bundesland.
Als ein in der Rehabilitationsmedizin tätiger Arzt bemühen Sie sich auch um einen Genderansatz in der Rehabilitation – was muss man sich darunter vorstellen?
Dr. Kupatz: Wenn man sich das in der Praxis anschaut, so sind geschlechtsbezogene Hemmnisse für eine umfassende und zielführende Rehabilitation seit langem bekannt. Das beginnt bei der Antragstellung für eine Rehabilitationsmaßnahme. Die setzt zunächst voraus, dass der Patient, die Patientin seine, ihre Problematik erkennen kann und aus Handlungsoptionen auszuwählen gelernt hat. Analysen der unterschiedlichen Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen der gesetzlichen Krankenversicherung durch Männer und Frauen weisen Vergleichbarkeiten zur Reha-Antragstellung auf. Das Ministerium für Arbeit, Soziales und Gesundheit des Landes Schleswig-Holstein hat vor einiger Zeit die schlechte Inanspruchnahme der gesetzlichen Vorsorgeuntersuchungen durch Männer festgestellt. In Schleswig-Holstein nehmen 59 Prozent der Frauen und nur 23 Prozent der Männer an Reha-Maßnahmen teil. In Mecklenburg-Vorpommern liegen gering bessere Werte (66 bzw. 33 Prozent) über dem Bundesdurchschnitt vor.
Was hindert Männer nach Ihren Erfahrungen, Vorsorgeangebote in Anspruch zu nehmen?
Dr. Kupatz: Es ist das Problem der fehlenden Selbstreflexion, oft auch mangelnder Selbst-Achtung, des Ignorierens von Risikofaktoren und ersten Krankheitszeichen oder auch die unterschwellige Angst und unbewusste Verdrängung von ernsten Erkrankungen. Z. B. scheuen sich viele noch vor der Koloskopie. Bei jüngeren Männern wird die Diskrepanz zwischen dem gesellschaftlich geprägten „Mannsbild“ – „Mens health“ und Body-Styling einerseits und einer ungesunden Lebensweise, Nikotin und Alkohol andererseits – oft sehr deutlich. Und auch bei der Reha-Antragstellung von Männern spielt das gesellschaftlich induzierte Bild des „starken“ Geschlechts als Beschützer und Ernährer der Familie eine Rolle. „Mann“ hat Bedenken, seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Bei Frauen stehen u. a. die familiäre Situation, die Pflege von Eltern, zu betreuende Kinder – gerade bei Alleinerziehenden – im Vordergrund, wenn es um die Entscheidung für eine Reha geht. Und wir wissen auch, wie unterschiedlich Nachsorgeprogramme von Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in Anspruch genommen werden. Ein Grund hierfür ist das Erwerbsleben selbst. In Mecklenburg- Vorpommern sind 35 Prozent der erwerbstätigen Männer sogenannte „Pendler“ – mit einer täglichen Anfahrtsstrecke zur Arbeit von 70 km?
Mecklenburg-Vorpommern hat – durch seine natürlichen Ressourcen und seine medizinischen Kapazitäten – viele Reha-Kliniken. Welche ganz praktischen Erfordernisse ergeben sich für dieses Potenzial für die geschlechtsspezifischen Medizin?
Dr. Kupatz: Der Rehabilitationswissenschaftliche Arbeitskreis Mecklenburg-Vorpommern hat sich bereits 2008 mit dieser Problematik beschäftigt und im Jahre 2010 eine Arbeitsgruppe „Gender“ eingesetzt. Eine Aufgabe besteht in der Analyse von reha-praktischen Genderprogrammen. Weiterhin soll hinterfragt werden, ob eine andere Ansprache der Geschlechter zu einer besseren Akzeptanz von Reha-Modulen führt. Also – andere Inhalte und eine andere „Verpackung“. Damit wollen wir gerade bei Männern eine bessere Inanspruchnahme von Rücken-„Schule“ und „Lehr“-Kochen aber auch von Beckenbodentraining, Entspannungsverfahren erreichen. Und es gilt weiterhin den Forschungsbedarf zu benennen, z. B. wie die Inanspruchnahme von Maßnahmen der Reha-Nachsorge gerade für jüngere RehabilitandInnen verbessert werden kann. Es geht in der Rehabilitation also auch darum, „gendersensitive“ Maßnahmen zu entwickeln, konsequent die „Gender-Perspektive“ anzuwenden, die danach fragt, welche Auswirkungen unsere Aktivitäten und Maßnahmen auf Männer und Frauen haben, von welchen Konsequenzen sie jeweils betroffen sind, damit durch bessere Rahmenbedingungen kein Geschlecht strukturell benachteiligt wird – und die Rehabilitation für beide Geschlechter zu einer verbesserten Lebensqualität führt. Wir haben in M-V viele Möglichkeiten. Sie müssen nur – mit hoher Wirksamkeit für beide Geschlechter – genutzt werden.
Das Interview führte Annegret Hofmann
Weitere Informationen:
Arbeitskreis Gender und Gesundheit MV -
http://www.akgg-mv.de/
(Rehabilitation: Siehe auch Interview Prof. Dr. Ursula Härtel)