Birgit Fischer: Frauen und Männer sollen im Gesundheitswesen vergleichbar gute Präventions- und Behandlungsmöglichkeiten erhalten. Das ist das Ziel aller Akteure im Gesundheitswesen – im Prinzip gibt es da also auch keine Reibungspunkte zwischen den Positionen von Ministerium, Kassen und forschenden Pharma-Unternehmen. Ich sage „vergleichbar“ und nicht „gleich“, weil sich der „kleine Unterschied“ in medizinischen Versorgungsaspekten wie Schwangerschaft oder Krebsvorsorge maximal bemerkbar macht.
Manche glauben, allein das erzielbare Lebensalter als Kriterium sei ein Indiz für eine medizinische Unterversorgung der Männer: denn Männer leben hierzulande ja im Schnitt fünf Jahre kürzer als Frauen. Ergebnisse aus der Versorgungsforschung deuten hingegen auf Bereiche von Fehlversorgung hin, die insbesondere Frauen betrifft – etwa bei Herzinfarkt, Herzinsuffizienz oder psychischen Krankheiten. Ihr Projekt hat ja schon viel darüber berichtet.
In allen Entscheidungsphasen der Forschung, Entwicklung und medizinischen Anwendung muss daher die Sensibilität für geschlechtsspezifische medizinische Fragen eine besondere Aufmerksamkeit haben.
Beim ersten Blick scheint alles geregelt: Per Arzneimittelgesetz – Änderung in 2004 – werden Frauen in klinischen Studien zu Arzneimitteln berücksichtigt. Die Grünen-Abgeordnete Birgit Bender hat das kürzlich in einer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung noch einmal thematisiert. Mit der Antwort, dies geschehe „angemessen“, war sie nicht zufrieden, das müsse aktuell evaluiert werden. Wie sehen das die forschenden Arzneimittelhersteller? Gibt es nachvollziehbare Beispiele, die entsprechende Konsequenzen für bestimmte Arzneimittel hatten (Dosierung, Änderung der Verordnungspraxis, Nebenwirkungen usw.)
Birgit Fischer: Es gibt bereits solche Evaluationen! So hat eine 2007 publizierte Auswertung der Zulassungsstudien, die von 2000 bis 2003 bei der EMA eingereicht worden waren, folgendes Bild ergeben:(1) Von den in diesem Zeitraum zugelassenen 110 Medikamenten wurden 12 Frauen- und 5 Männerspezifische Präparate sowie 6 Diagnostika ohne Wirksamkeitsstudien ausgeschlossen. Bei den verbleibenden 87 Arzneimitteln wurden die hierfür eingereichten 250 Studien mit rund 158.000 Teilnehmern daraufhin untersucht, ob der Frauenanteil etwa dem der Patienten mit der jeweiligen Erkrankung entsprach. Die Autoren stellten fest, dass es keine relevanten Abweichungen von dieser Verteilung gab.
In der Beantwortung einer ähnlichen Kleinen Anfrage (Drucksache 17/6634 vom 20.07.2011) informiert die Bundesregierung über die Geschlechter-Verteilung in Studien, die zwischen dem 1. August 2004 und dem 10. Juli 2011 bei den deutschen Arzneimittelbehörden Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und Paul Ehrlich Institut beantragt wurden. Demnach waren bei 5.586 von 6.959 vom BfArM-genehmigten Studien Männer und Frauen vorgesehen (bei 926 sollten keine Frauen, bei 447 Studien keine Männern teilnehmen). Von 1.366 genehmigten klinischen Prüfungen in der Zuständigkeit des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) fanden 1.236 mit Männern und Frauen statt (zudem 57 ohne Männer, 68 ohne Frauen). Meist lag es an der Krankheit, dass nur Männer oder Frauen vorgesehen waren, etwa im Falle von Studien zu Brust-, Gebärmutter- und Prostata-Krebs oder zum Einsatz von Gerinnungsfaktoren bei Hämophilie-Patienten (diese sind fast ausschließlich männlichen Geschlechts).
Aus dieser Frage ergibt sich eine zweite: Erst vor wenigen Tagen hat der Kongress Versorgungsforschung in Köln in etlichen Beiträgen noch einmal die mangelnde Studienlage in Bezug auf die Gendermedizin beklagt, z. B. auch am Beispiel Kardiologie, wo von Seiten der Ärzt/innen schon viele Untersuchungen zur Geschlechterspezifik vorliegen (z. B. Prof. Regitz-Zagrosek und andere). Dennoch gebe es, so die Referent/innen, bezüglich der Versorgungsforschung, zu wenige Fortschritte. Wartet die Pharmabranche in solchem Fall auf entsprechende Leitlinien und stellt sie sich nicht besser an die Spitze solcher Entwicklungen – im Interesse der Verbraucher/innen?
Birgit Fischer: Deutschland braucht wesentlich mehr Versorgungsforschung! Andere Länder, insbesondere die angelsächsischen, sind uns da weit voraus. Pharma-Unternehmen können hier in bestimmten Feldern ihren Beitrag leisten, aber wenn es um die Untersuchung großer Patientenkollektive mit heterogener Behandlung geht, haben im Grunde nur die Krankenkassen die Daten und die Möglichkeit der Auswertung. Denn die Pharmafirmen bekamen bisher keinen Zugang zu diesen Daten.
Den Krankenkassen wiederum fehlt die Unterstützung durch eine öffentliche Förderung der Versorgungsforschung.
Doch bereits das, was bisher über die Versorgung in Deutschland bekannt ist, deutet auf Gender-Ungleichheiten hin, die überwunden werden müssen. Dreh- und Angelpunkt ist dabei aber häufig, dass die betreffenden Krankheiten auch bei beiden Geschlechtern frühzeitig und bei allen Betroffenen diagnostiziert werden müssen.
Fälle, wo Medikamente nicht beiden Geschlechtern in gleicher Weise zur Verfügung stehen (obwohl die Krankheit nicht strikt geschlechtsspezifisch ist), gibt es hingegen wenige. In diesen Fällen (Osteoporose, Brustkrebs u.a.) sind Männer betroffen.
Mit sehr grundlegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen hat kürzlich eine Forschergruppe um Prof. Thomas Illig, Helmholtz Zentrum München, auf sich aufmerksam gemacht. Sie erbrachte den Nachweis, dass sich Frauen und Männer in den Stoffwechselprofilen des Blutserums signifikant unterscheiden. Illig im Interview mit mir: „Männer und Frauen sind molekular zwei völlig unterschiedlichen Kategorien zuzuordnen. Das bedeutet, im therapeutischen Herangehen muss das grundlegend beachtet werden, bei der Entwicklung von Pharmaka beispielsweise.“ Was wäre zu tun, um solche Erkenntnisse schnell umsetzen zu können, müsste nicht auch die Kommunikation verbessert werden?
Birgit Fischer: Neue Erkenntnisse der Grundlagenforschung sind immer ein Grund, bisherige Kenntnisse und Erfahrungen zu überprüfen. Andererseits kann man auch nicht übersehen, dass nicht jeder anatomische oder physiologische Gender-Unterschied relevant für Leben und Gesundheit ist – man denke nur an die Größe oder das Gehirnvolumen.
Das ist auch die Erfahrung der Unternehmen bei der geschlechtsspezifischen Auswertung von Studien mit Medikamenten: Es lassen sich in der Tat oft statistische Unterschiede zwischen Frauen und Männern finden, wenn es um die Konzentration und Verweildauer von Wirkstoffen im Blut geht. Diese sind aber fast immer geringer als die individuellen Unterschiede von Mensch zu Mensch. Anders gesagt: Ob man dick oder dünn, trainiert oder untrainiert ist, ob man junge oder alte Nieren hat, ob man raucht oder nicht, ob man sich gemischt oder vegetarisch ernährt – all das ändert das Verhalten eines Medikaments im Körper stärker als das Geschlecht! Pharmaforscherinnen und -forschern ist es aber meist gelungen, „robuste“ Medikamente zu entwickeln, also solche, bei denen es für Wirkung und Nebenwirkungen keine Rolle spielt, ob Konzentration und Verweildauer im Körper etwas höher oder etwas niedriger sind. In den öffentlichen Bewertungsberichten (EPARs) der europäischen Zulassungsbehörde EMA wird das mit Vermerken wie diesem festgehalten:
- „Gender had a modest effect (14-25%) on ofatumumab pharmacokinetics in a cross-study analysis, with higher Cmax and AUC values observed in female patients (41% of the patients in this analysis were male and 59% were female); these effects are not considered clinically relevant, and no dose adjustment is recommended.“ (EPAR zu Arzerra Infusionslösung gegen chronische lymphatische Leukämie).
- „Gender: Active substance exposure in female patients is about 40 % to 50 % higher than in male patients and no dose adjustment is recommended.“ (EPAR zu Pradaxa Kapseln gegen Throm-bosen).
Wahrscheinlich könnte es zur Vertrauensbildung beitragen, wenn diese Informationen auch in jeder Packungsbeilage und jeder Fachinformation (also der ausführlicheren Gebrauchsinformation zum Medikament für Ärzte und Apotheker) stehen würde. Wo es tatsächlich darauf ankommt, dass die Wirkstoffkonzentration genau stimmt, braucht jeder Patient seine persönliche und eventuell sogar situativ wechselnde Dosis. So werden blutdrucksenkende Medikamente nicht in „Einheitsdosis“ verordnet, sondern individuell so, dass der therapeutisch gewünschte Zielblutdruck erreicht wird. Entsprechendes gilt beispielsweise für Insulin (Zielwert: Blutzuckerspiegel). Jede eventuell nötige Anpassung an das Geschlecht wird dabei gleich mit erledigt.
Doch es gibt Ausnahmen: Es gibt ein Präparat gegen Haarausfall, das wegen der deutlichen Unterschiede in der für Frauen bzw. Männer richtigen Dosierung in einer eigenen Aufmachung für Männer bzw. für Frauen angeboten wird. Ferner muss ein Hormon-Medikament zur Behandlung von Fruchtbarkeitsstörungen (Ei- bzw. Spermienreifung) bei Männern und Frauen unterschiedlich dosiert werden. Ein weiteres Medikament – gegen chronische Verstopfung – war eigentlich vom Hersteller für Männer und Frauen gedacht, ist aber bisher nur für Frauen zugelassen, weil es in den untersuchten Dosierungen nur bei ihnen wirksam war. Derzeit laufen Studien, um auch eine für Männer richtige Dosierung zu finden. Weitere Forschungsarbeiten zu Geschlechtsunterschieden in der Medikamentenwirkung sind sehr wichtig, um noch mehr solcher Ausnahmen zu finden.
(1) Müllner et al. Are women appropriately represented and assessed in clinical trials submitted for marketing authorization? A review of the database of the European Medicines Agency. Int. Journal of Clin. Pharmacol. and Therapeutics No 9/2007
Das Gespräch führte Annegret Hofmann