Bestandsaufnahme in Sachen Gendermedizin:
Unterschiede mit Konsequenzen für Diagnose und Therapie

Symposium „Gendermedizin 2012“ der
Deutschen Gesellschaft für geschlechtsspezifische Medizin (DgesGM) und des Instituts für Geschlechterforschung (GiM) am 16. November in Berlin:

Rund 150 Interessent/innen – Ärzt/innen, Wissenschaftler/innen, aber auch Vertreter/innen von Verbänden, Vereinen, Krankenkassen, Unternehmen und Medien – waren der Einladung ins Deutsche Herzzentrum gefolgt. Die Referate gaben einen spannenden aktuellen Überblick über den Stand der Gendermedizin in verschiedenen Fachbereichen.

Aus den Beiträgen:

Prof. Dr. Vera Regitz-Zagrosek, Direktorin Institut für Geschlechterforschung in der Medizin (GiM), komm. Vorstandsmitglied Center for Cardiovascular Research (CCR), Charité – Universitätsmedizin Berlin und Deutsches Herzzentrum Berlin (DHZB)

Leitliniendefizit. Soziokulturell bedingte (Gender-)Unterschiede im Herz-Kreislauf--System finden wir vor allem im Bereich der Wahrnehmung. Frauen nehmen ihre Brustschmerzen beim Herzinfarkt zum Teil anders wahr als Männer und auch ihre Umgebung scheint auf Brustschmerzen bei Frauen anders zu reagieren als bei Männern. Frauen kommen in der Regel deutlich später als Männer in die Klinik und werden dort langsamer als Männer einer Akutversorgung zugeführt. Regional unterschiedlich erhalten Frauen immer noch weniger Katheteruntersuchungen und primäre Katheterinterventionen als Männer. Gerinnungshemmer werden relativ überdosiert, da die Dosierungsrichtlinien für Männer erarbeitet wurden. Blutungskomplikationen bei Katheterinterventionen und Gabe von Thrombolytika bei Frauen sind deutlich häufiger als bei Männern. Frauen erhalten seltener als Männer eine leitliniengerechte Therapie zur Lipidsenkung, auch wenn sie Hochrisikopatientinnen mit Diabetes und koronarer Herzerkrankung sind. Sie sind präventiven Maßnahmen eher zugewandt und bei ihnen können eher Erfolge durch Lebensstiländerungen erzielt werden.

Prof. Dr. Petra-Maria Schumm-Dräger, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Angiologie, Städtisches Klinikum München GmbH, Klinikum Bogenhausen

Adipositasgefahr. In besonderer Weise alarmierend ist es, dass Frauen, und hier in den letzten Jahren insbesondere jüngere Frauen, nicht nur deutlich mehr gefährdet sind, eine Adipositas, vor allem auch eine abdominelle Adipositas, ein metabolisches Syndrom und einen Typ 2 Diabetes mellitus zu entwickeln, sondern dass Frauen insgesamt ein signifikant erhöhtes Risiko v.a. für Herz-Kreislauferkrankungen im Zusammenhang mit Adipositas, metabolischem Syndrom und Typ 2 Diabetes mellitus haben.
Wie aktuell verfügbare Daten zeigen, haben Frauen mit metabolischem Syndrom bzw. Typ 2 Diabetes mellitus u. a. unabhängig vom menopausalen Status ein 4- bis 6-fach erhöhtes Risiko, eine kardiovaskuläre Erkrankung zu entwickeln (bei Männern ist dies nur 2- bis 3-fach gesteigert); ein höheres Risiko für die Entwicklung einer arteriellen Hypertonie, einen „gefährlicheren“ Typ der Fettstoffwechselstörung mit deutlich erniedrigtem HDL-Cholesterin, erhöhten Triglyceriden, sowie signifikant mehr schädlichen Komponenten des ungünstigen LDL-Cholesterins, in Abhängigkeit von der reproduktiven Physiologie erhöhte Risikokonstellationen zur Entwicklung eines metabolischen Syndroms bzw. eines Typ 2 Diabetes mellitus bei Gestationsdiabetes, sowie polyzystischem Ovarsyndrom (PCOS).

Dr. Natascha Hess, Fachärztin für Innere Medizin/Kardiologie/Sportmedizin, Gendermedizinerin (DGesGM), Berlin

Komplexer Ansatz. Die „klassischen“ Symptome des Herzinfarktes mit linksthorakalen Schmerzen und Ausstrahlung in den linken Arm treten bei beiden Geschlechtern gleich häufig auf. Allerdings scheint das Spektrum der wahrgenommenen Infarktsymptome bei Frauen komplexer zu sein. Mehr Frauen als Männer äußerten Schmerzen in der Schulter, im Rücken, im Oberbauch oder Kieferbereich. Auch Symptome wie Übelkeit und Erbrechen, Schwindelgefühl, Dyspnoe oder lediglich eine Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit wurden von Frauen häufiger genannt.

PD Dr. med. Renate B. Schnabel, MSc, Internistin und Kardiologin, Oberärztin Universitäres Herzzentrum Hamburg-Eppendorf

Gutenberg–Heart Studie. In der Gutenberg-Gesundheitsstudie – Start 2007 - untersuchen wir 15.000 Individuen, 50 Prozent Frauen, auf kardiovaskuläre Risikofaktoren, Vorstufen kardiovaskulärer Erkrankungen durch nichtinvasive Funktionsdiagnostik sowie Inzidenz und Prävalenz von u.a. Herzinfarkt, Schlaganfall, pAVK und Vorhofflimmern. Aktuell können wir damit klare geschlechtsspezifische Unterschiede in der Verteilung klassischer Risikofaktoren und prävalenter kardiovaskulärer Erkrankungen in einer populationsbasierten Kohorte mittleren Alters nachweisen. Die Ursachen hierfür gehen über weibliche Geschlechtshormone hinaus und müssen weiter evaluiert werden.

Dr. Christian Nolte, Oberarzt der Neurologischen Klinik der Charite, Center for Stroke Research (CSB)

Schlaganfall. Frauen erleiden nicht nur zahlenmäßig mehr Schlaganfälle, sondern sie haben auch eine vergleichsweise schlechtere Prognose: Die Erholung nach Schlaganfall ist geringer, der Grad der Abhängigkeit nach Schlaganfall größer, die Angabe von Symptomen einer Depression nach Schlaganfall sind häufiger und die Lebensqualität nach einem Schlaganfall ist bei Frauen schlechter.
Bereits in der Primärprävention zeigt sich, dass die Einnahme von täglich 100mg Aspirin Frauen vor einem Schlaganfall schützt. Dies konnte bei Männern nicht gezeigt werden.
Das Risikoprofil und die Versorgungssituation von Frauen mit Schlaganfall unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von Männern mit Schlaganfall: Frauen sind bei ihrem ersten Schlaganfall circa 5 Jahre älter, haben häufiger Vorhofflimmern und arteriellen Hypertonus, aber haben seltener bereits einen Herzinfarkt erlitten. Sie leben häufiger allein oder in einer Pflegeeinrichtung. Die Unterschiede in Risikoprofil und Versorgungssituation wirken sich auf die Prognose aus und müssen in entsprechenden Studien berücksichtigt werden.

Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Bettina Pfleiderer, Institut für klinische Radiologie, Universität Münster

Gehirn weiblich – männlich. Frauen und Männer unterscheiden sich auch in neuropsychologischen Tests: Frauen haben beispielsweise eine besseres Sprachgedächtnis, während Männer dagegen bessere Ergebnisse in räumlichen Wahrnehmungsaufgaben hatten. Diese Unterschiede setzen sich bis ins hohe Alter fort. Auch reagiert das Gehirn unterschiedlich auf emotionale Reize und verarbeitet diese andere. Dies führt dazu, dass die Geschlechter unterschiedlich auf die gleichen Reize reagieren. Dennoch darf man nicht daraus ableiten, dass man dadurch wüsste, wie Männer und Frauen denken.
Zudem sollte man nicht außer Acht lassen, dass die Verarbeitung im Gehirn ein multifaktoriell und sehr individuell ist: neben genetischer Disposition und Hormonen (biologische Faktoren) spielen auch soziale und Umweltfaktoren (soziale Faktoren) eine wichtige Rolle.

PD Dr. med. Katarina Stengler, Universitätsklinikum
Leipzig


Psychiatrie. Angesichts der bekannten Unterschiede in den sozialen, psychischen und biologischen Wirklichkeiten von Frauen und Männern ist es unumgänglich, sowohl in der Steuerung von Versorgungssystemen als auch in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Forschung geschlechterdifferenziert vorzugehen. Dies trifft auf alle Bereiche der Forschung zu: von der Grundlagenforschung über die klinische bis hin zur Versorgungsforschung.

PD Dr. med. Dr. med. dent. Christiane Gleissner, Poliklinik für Zahnerhaltungskunde der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität, Mainz

Zahngesundheit.
Die meisten epidemiologischen Untersuchungen zeigen eine enge Beziehung von Zahngesundheit und sozioökonomischen Faktoren. Dies unterstreicht die auch für orale Erkrankungen bedeutsame Wechselbeziehung zwischen Sex und Gender.
So sind Geschlechterunterschiede in der Mundgesundheit auch vor dem Hintergrund eines unterschiedlichen Inanspruchnahmeverhaltens zahnärztlicher Leistungen, (Mund-)Gesundheitsbewusstseins und Kommunikationsverhaltens zu betrachten.

Dr. Uta Stiegler, Ärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie, Rheumatologie, spezielle Schmerztherapie, Sportmedizin, Akupunktur, Chirotherapie, Osteologie, Naturheilverfahren. Berlin

Sex – Gender – Rückenschmerz.
In jüngerer Zeit wird bekannter, dass Geschlecht im Hinblick auf Krankheit und Gesundheit auch in der Orthopädie und Rheumatologie und Schmerztherapie eine große Rolle spielen, was sich auf Diagnostik und Therapie auswirken muss. Trotzdem pflegen diese Fächer weithin den blinden Fleck Geschlecht.
Tatsächlich spricht viel dafür, dass Skelett – Beckenform - und somit die Gelenkbewegungsachsen bei Männern anders sind als bei Frauen. Dasselbe gilt für Muskelstrukturen – gleiches Training bewirkt sex-differenten Muskelzuwachs. Beim Schmerz wird vermutet, dass dessen Verarbeitung hormonabhängig – und damit auch geschlechtsspezifisch ist. Jedoch: Mit der Anerkennung dieser Differenzen ist nicht alles gewonnen. Sex-Differenzen müssen in der Medizin vielmehr als Gender-Aspekte ernst genommen werden.

Prof. Dr. Karen Nieber, Universität Leipzig, Institut für Pharmazie, Leipzig

Arzneimitteltherapie. Problematisch ist nach wie vor, die klinische Relevanz eventueller geschlechtsspezifischer Unterschiede von Wirksamkeit und Verträglichkeit pharmakokinetisch und pharmakodynamisch zu beurteilen. Zurzeit fehlt es hierfür an einer adäquaten Datenlage. Vor allem aufgrund der katastrophalen Erfahrungen mit Thalidomid und der Sorge vor Schadensersatzansprüchen sind Frauen bis in die 90er Jahre hinein konsequent aus klinischen Prüfungen von Arzneimitteln, insbesondere in der Phase I, herausgehalten worden. Auch wenn seitdem mit erheblichem politischem Bemühen ein gewisser positiver Trend zu mehr Geschlechtsspezifika stattgefunden hat, zeigen aktuelle Analysen, dass Frauen in klinischen Studien nach wie vor deutlich unterrepräsentiert sind. Der praktische Aussagewert und die Durchschlagskraft der aktuellen Forschung zur geschlechterdifferenzierten Arzneimitteltherapie sind nach wie vor zu gering.

Prof. Dr. Oliver Werz, Lehrstuhl für Pharmazeutische/Medizinische Chemie, Institut für Pharmazie, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Lipoxygenasen. Interessanterweise sind die Leukotrien-vermittelten Erkrankungen bei Frauen wesentlich häufiger anzutreffen als bei Männern; der Geschlechtsaspekt wurde jedoch bislang in der Leukotrien- oder Lipoxygenase-Forschung nicht berücksichtigt.
 Wir zeigten erstmals, dass Blut bzw. Leukozyten von Frauen zwei bis fünfmal mehr entzündungsfördernde Leukotriene bilden als Blut bzw. entsprechende Zellen von Männern. Verantwortlich für diese Diskrepanz ist das männliche Sexualhormon Testosteron... Daraus kann gefolgert werden, dass Leukotriene für die Pathophysiologie des Mannes möglicherweise nur eine geringe Rolle spielen, für Frauen jedoch eine sehr große.

Prof. Dr. med. Claudia M. Witt, MBA, Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie u. Gesundheitsökonomie, Charité Berlin
Komplementärmedizin. In klinischen Studien zur Komplementärmedizin werden Geschlechteraspekte bisher viel zu wenig berücksichtigt und nur selten werden Daten dazu publiziert. Umfragen zu Folge haben in Deutschland 70 Prozent der Frauen und 54 Prozent der Männer innerhalb von 12 Monaten mindestens einmal komplementärmedizinische Therapien wie z.B. Naturheilkunde oder Akupunktur in Anspruch genommen.